„Von den ersten Jahren an …“

„Von den ersten Jahren an …“1
Ehrfurcht vor dem Leben als grundlegende Erziehungsaufgabe

Dr. Gottfried Schüz

„Gehst du mit Kindern in die Natur, laß sie nicht gedankenlos Blumen brechen, schon in der ersten Stunde, die dann in den heißen Händchen welken und die sie dann, weil sie ihnen unbequem werden, achtlos wegwerfen, sondern wage, sie von den ersten Jahren an zur Ehrfurcht vor dem Leben zu erziehen! Mache dich meinetwegen vor gedankenlosen Menschen lächerlich, die über solche Marotten spotten. Aber die Kinder werden von dem Schauer des Geheimnisses ergriffen werden und dir einmal danken, dass du die große Melodie der Ehrfurcht vor dem Leben in ihnen geweckt hast.“2

Wenn man diese pädagogisch ambitionierten Zeilen aus einer seiner Predigten liest, so fragt man sich, warum Albert Schweitzer keine eigene „Pädagogik“ verfasst hat. Wäre diese nicht als innere Konsequenz und zentrales Anliegen seiner Ethik vorrangig gewesen? Dieses hat seinen Grund, und der liegt in seiner Ethik selbst. In einer Predigt „über Erziehung“ aus dem Jahr 1911 stellt er klar: Erziehung ist keine Sonderaufgabe nur für Eltern und Lehrer, „sondern ist in irgendeinem Maße in allen Beziehungen der Menschen zueinander gegeben“.3 „Ethik“ und „Erziehung“ stehen für Schweitzer nicht nebeneinander, sondern bilden eine unauflösliche Einheit. Daher ist es für ihn nur zu konsequent, „die Erziehung zur Ehrfurcht vor dem Leben in allen seinen Gestalten (als) eine der größten geistigen Aufgaben der Zukunft“4 zu proklamieren – eine Aufgabe, die wie gesagt „von den ersten Jahren an“, d.h. gar nicht früh genug angegangen werden kann.

Dennoch ist die Frage berechtigt, wie diese gewaltige Erziehungsaufgabe nach Schweitzer verwirklicht werden soll, wenn er eine „Pädagogik“ nicht eigens ausgearbeitet hat. Bei näherem Hinsehen enthält die eingangs zitierte pädagogische Handlungsanweisung ein grundlegendes Programm für eine anfängliche Erziehung zur Ehrfurcht vor dem Leben: Diese hat es 1. ‚von Haus aus’ weniger mit einer zerstörerischen Absicht gegenüber anderem Leben zu tun, als vielmehr mit der Gedankenlosigkeit. Sie weicht daher Konflikten nicht aus, die sich aus der Konfrontation entgegengesetzter Lebensbedürfnisse ergeben, und setzt das eigene Denken in Gang. Solches Denken ist „elementar“ und „wahrhaftig“ nur dann, wenn es 2. mit einem (Mit-)Erleben und (Mit-)Erleiden anderen Lebens unlösbar verbunden ist. Es legt den Grund für die Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben. Erst auf dieser Basis kann 3.
Verantwortung für das eigene Tun bewusst, schrittweise eingeübt und lebensweltlich erweitert werden. Verantwortung zuzuerkennen bzw. vom Kind übernehmen zu lassen setzt schließlich 4. Vertrauen voraus als dem alles tragenden Fundament der Erziehung im Schweitzerschen Sinne.

Wider die Gedankenlosigkeit

Es ist ein Irrtum zu meinen, dass sich das Kind in all seiner unbefangenen Offenheit noch ganz im Einklang und in ursprünglicher Verbundenheit mit dem Lebensganzen befände und erst die verderblichen gesellschaftlich-kulturellen Einflüsse diese Einheit untergegraben würden. Das romantische Bild eines Kindseins in reiner, unmittelbarer Ursprünglichkeit und Allverbundenheit mit der Natur erweist sich als eine, wenn auch schöne, Illusion. Die paradiesische Naturverbundenheit, nach der wir uns so sehnen und deren Rudimente wir meinen wenigstens noch im Kind erheischen zu können, ist in Wahrheit gerade bei diesem schon immer übersprungen. Jeder Mensch befindet und findet sich ursprünglich in einem mehr oder weniger bewussten Lebens- und Weltverständnis eingebettet, das aus seinem geschichtlichkulturellen Kontext erwächst, und in das er eingewöhnt bzw. ‚eingewohnt’ ist. Dieses bildet und prägt den Horizont des Verstehens und „Begreifens“ der uns umgebenden Welt „von den ersten Jahren an“. Vor allem für das aufwachsende Kind sind ursprünglich bedürfnisgebundene Gewohnheiten und zweckgerichtete Selbstverständlichkeiten bestimmend, mit denen es sich die Dingwelt erobert und fraglos zu eigen macht.5 Es bewegt sich schon immer in den Formen und Normen des selbstverständlich übernommenen Lebens- und Weltverständnisses. Darüber darf auch der vielgerühmte kindliche Frageeifer nicht hinwegtäuschen. Der Philosoph und Pädagoge Otto Friedrich Bollnow hat es einmal treffend zugespitzt: „… im geistigen Sinn kommt das Kind, so paradox das zunächst klingt, alt zur Welt und … muss erst durch alle überkommenen Formen hindurch zur Ursprünglichkeit seines Lebens durchdringen.“ 6

Wenn nun Albert Schweitzer feststellt, dass „wir“ zunächst und zumeist „in der Bahn des gewöhnlichen Dahinlebens verbleiben“ und der „Gedankenlosigkeit“ zuneigen7, so gilt dies erst recht für Kinder. Kinder haben für ‚alles’, was ihnen begegnet, immer schon mehr oder weniger handfeste Erklärungs- und Handlungsmuster parat. Das macht für sie die komplexe Welt überschaubar und schafft Vertrautheit. Die pädagogische Aufgabe muss genau hier ansetzen: Der fraglose, gewohnte und vertraute – sprich: gedankenlose Umgang mit Dingen und Lebewesen kommt erst ins Wanken, wenn unerwartete Ereignisse eintreten, irgend etwas ‚quer’ kommt oder etwas unausweichlich zum Problem wird; erst dann und nur dann kommt das Kind und nicht weniger auch der Erwachsene zur „Besinnung“.8

Albert Schweitzer schildert in seinen Kindheitserlebnissen sehr anschaulich, wie er durch solche ‚Quererfahrungen’ aus seiner gewohnten Bahn herausgeworfen wurde, ins Nachdenken über den Sinn und Zweck seines Tuns genötigt und zu einer neuen, ethischen Handlungsweise und Haltung geführt wurde. Es sei an die Geschichte von der Jagd auf Vögel mit Steinschleudern erinnert, zu der er von einem Freund animiert wurde: Der kleine Albert konnte sich der Aufforderung seines Freundes zunächst nicht entziehen; wer riskiert denn schon eine Freundschaft für einige belanglose Vögel, von denen ja mehr als genug am Himmel herumschwirren? Erst das unerwartet einsetzende „Zeichenläuten“ vom Kirchturm riss ihn aus dem zwanghaften Kameradschaftsgeist und verhalf der unterdrückten Gewissensstimme zum Durchbruch: „Du sollst nicht töten“.9 Oder man denke an die wiederholt über den Knaben Albert kommende Leidenschaft, auf dem Kutschbock sitzend den „Braunen“ auch dann noch in den Galopp zu peitschen, wenn dieser längst erschöpft war. Erst der Schweiß, die zitternden Flanken und vor allem der traurige Blick des Pferdes traf ihn ins Herz und gab den Anstoß, darüber nachzudenken, welchen Preis dieses Tier für die Befriedigung seiner ungezügelten Machtgelüste zu zahlen hatte.10 Und so ließen sich die autobiografischen Beispiele fortsetzen: Die Konfrontation mit dem Leid, das durch sein ungebändigtes Sich-selbst-Ausleben-wollen verursacht wurde und ihm nachfühlbar vor Augen trat, brachte ihn zur Besinnung und zum neuen Ausloten seines Verhältnisses zu seinen Mitlebewesen. Es sind die täglich immer wieder und immer neu auftretenden Konflikte zwischen widerstreitenden Lebensbedürfnissen, in die auch Kinder geraten. Diese aber werden als Konflikte überhaupt nur wahrgenommen, wenn das eigene Entfaltungsstreben an Grenzen stößt oder die leidvollen Konsequenzen des eigenen Tuns für die Mitgeschöpfe bewusst erfahren werden.

Solche Konfliktsituationen sind also entscheidende Auslöser für ein Nachdenken über das eigene Verhältnis zu anderen Lebewesen. „Ethisch werden heißt wahrhaft denkend werden“, so formuliert es Schweitzer in seiner Kulturphilosophie.11

In Anwendung auf die Erziehung drängt sich jedoch die kritische Frage auf: Wird hier mit der Betonung des „Denkens“ der junge Mensch nicht überfordert? Setzt hier die Pädagogik nicht zu einseitig auf die intellektuellen Fähigkeiten, statt die Gemütskräfte und Gefühle der Kinder und Jugendlichen anzusprechen? Kurz: Hängt hier Schweitzer nicht einer längst überholten ‚verkopften’ Pädagogik an, die auf die ‚Füsse’ einer (er-)lebensnahen Erziehung zu stellen ist?

Die Einheit von Gefühl und Denken

Schweitzer war alles andere als ein trockener Rationalist. Wenn es in seinem Sinne um eine Erziehung zu „elementarem“, „wahrem“ oder „echtem“ Denken geht, ist nicht Einübung logischer Verstandesoperationen oder „Gedankenmathematik“12 gemeint. Die Anbahnung ethischen Denkens bzw. der Aufbau einer denkenden Ethik muss tiefer greifen, wenn sie grundlegende Gesinnungen und Haltungen verändern will. Die entscheidende, Schweitzers Denken unausgesprochen zugrunde liegende pädagogische Frage lautet: Unter welchen Voraussetzungen kann es gelingen, dass junge Menschen sich von einer Haltung der Gleichgültigkeit und eines rücksichtslosen Sich-selbst-Auslebens lösen und aus voller Überzeugung bekennen: „Ich kann nicht anders als Ehrfurcht haben vor allem was Leben heißt“13? Eine entscheidende Voraussetzung wurde vorhin bereits genannt: Erziehung weicht Konflikten zwischen einer Erhaltung und Schädigung von Leben, in die Kinder wie Erwachsene geraten, nicht aus. Im Gegenteil: Der Konflikt muss bewusst wahrgenommen und die denkende Auseinandersetzung mit ihm nachdrücklich vollzogen werden: „In der Wahrheit sind wir, wenn wir die Konflikte immer tiefer erleben.“14 Dies gilt bereits schon für das ‚unschuldige’ Kind, dem aufgeht, dass es am Absterben der in den eigenen Händchen dahinwelkenden Blumen ‚schuld’ ist. Die daraus erwachsende Betroffenheit ist allerdings nicht das Ergebnis einer abstrakten Denkoperation. Und damit ist die zweite entscheidende Voraussetzung ethischen Lernens angesprochen: Die Anteilnahme und Verbundenheit mit anderem Lebensschicksal muss buchstäblich er-lebt, d.h. nachempfunden und in den Folgen des eigenen unbedachten Tuns er-fahren werden. Miterleben, Mitfühlen und wertschätzende Verbundenheit mit anderem Leben sind dem Kind nicht in die Wiege gelegt. Dieses kann sich nur aus einer unmittelbaren, lebens- und er-lebensnahen Begegnung mit anderem Leben entwickeln. Ein solches Erleben und Mitfühlen bleibt aber folgenlos, wenn es nicht in eine entsprechende Be-sinnung einmündet; in ein Nachdenken über Sinn und Zweck des eigenen Handelns. Es gehört also beides zusammen: Gefühl bzw. Erleben und Denken. Schweitzer hat diese Zusammengehörigkeit sehr treffend formuliert:

„Das Gefühl, das sich dem Denken entzieht, verfehlt seine Bestimmung. Das Denken, das meint, am Gefühl vorbeigehen zu können, kommt vom Wege ab, der in die Tiefe führt. Wo das Gefühl in das Denken hinaufreicht und das Denken in das Gefühl hinabreicht, ist unser ganzes Wesen an dem Gestalten der Überzeugungen, die wir in uns tragen, beteiligt.“15

Im Blick auf das Schulwesen ließ eine entsprechend hellsichtige Kritik Schweitzers nicht auf sich warten: Er beklagte, dass die Schulen zwar „Kenntnisse … vermitteln“, aber es vernachlässigen, „Herz und Gemüt des Menschen zu erziehen“; sie seien nur noch „reine Mitteilung von Wissenschaft“. Mit anderen Worten: „Der Verstand wird gefüllt; der Mensch bleibt arm und unentwickelt.“16 Demgegenüber müsse die Schule den Kindern „auch die tiefe Erkenntnis mitgeben, dass das Herz mitzureden hat mit dem Verstand!“17

Erst im Zusammenwirken von Herz und Verstand, von Gefühl und Denken bzw. Wissen und Erleben kann sich „die Symphonie des Denkens“18 aufbauen. Nur so könnten die Bildungseinrichtungen „jene Beziehung auf die menschlichen Ideale“ wiedergewinnen, durch die sie dermaleinst „Stätte(n) der Humanität im tiefsten Sinne des Wortes“ waren.

Die pädagogische Bedeutung des Zusammenhangs von Erleben, Fühlen und Denken ist gerade heute kaum zu überschätzen. Die unmittelbare Begegnung und Auseinandersetzung mit anderem Leben wird zunehmend von elektronischen Medien verdrängt. Videos, Computerspiele und künstlich erstellte, virtuelle Welten treten an die Stelle von Primärerfahrungen, welche die lebendige Mitgeschöpflichkeit ursprünglich nahe bringen könnten. Wen oder was kann die Zerstörung anderen Lebens noch berühren oder gar erschüttern? Wohl und Wehe anderen Lebens, wie es in der direkten Naturbegegnung noch vor ein bis zwei Generationen Kinder selbstverständlich begleitete, entschwindet der unmittelbaren Erlebniswelt des Kindes und wird zu bloßer Information von Bildschirmmedien denaturiert. Daher kann es ohne Bindung an natürliche Lebewesen auch keine Erfahrung ihres unwiederbringlichen Verlustes geben. Ohne ein direktes Erleben von Freude und Leid von Mitlebewesen kann sich weder Mit-freude noch Mit-leid, d.h. keine Empathie für andere Lebensschicksale ausbilden.

Darum hat die Überwindung der „Naturvergessenheit“19 in familiärer, schulischer und außerschulischer Erziehung und Bildung gegenwärtig höchste Priorität. Das Schweitzersche „Gehst du mit Kindern in die Natur …“ aus obigem Eingangszitat muss daher in einen Imperativ gewendet werden: ‚Geh … mit Kindern in die Natur!’ Ohne eine unmittelbare Begegnung mit und ‚hautnahe’ Sensibilisierung für die originäre Lebenswirklichkeit und -wirksamkeit – nicht unbedingt ‚gegen’, wohl aber zumindest ‚neben’ den modernen Medien – muss jegliches Gefühl und Bewusstsein der Zusammengehörigkeit mit dieser bei Kindern und Jugendlichen verkümmern. Ethische Erziehung muss sich als Geleit „aus dem naiven Dahinleben in das wahre Erleben des Lebens“20 verstehen. Nur in der empathischen Begegnung mit anderem Leben kann im Kind der Sinn für die geheimnisvolle Verbundenheit allen Lebens aufkeimen und Wurzeln schlagen. Und nur so kann die „große Melodie der Ehrfurcht vor dem Leben“ im eigensten Selbst erklingen und im ‚unergründlichen Grund’ des Seins Resonanz finden. Vielleicht ist mit dieser gesteigerten Not-wendigkeit auch die Gefahr gewachsen, als Erzieher wegen vermeintlicher Sentimentalität belächelt oder verspottet zu werden. Umso beherzter gilt es, dieses Wagnis einzugehen. Denn „wo aber Gefahr ist“, so lesen wir bei Hölderlin, „wächst das Rettende auch“.21

Grenzenlose Verantwortung

Eine ethische Erziehung im Schweitzerschen Sinne bliebe auf halbem Wege stehen, wenn ein denkendes Erleben anderen Lebens in den ethischen Konflikten nicht auch in ein eigenständiges Entscheiden und Handeln einmünden würde, das sich von „der aufs höchste gesteigerten Verantwortung gegen das andere Leben leiten läßt“.22

Es genügt nicht, Kindern und Jugendlichen in Konflikten Spielräume bloßen „Nachdenkens“ über mögliche Handlungsalternativen zu gewähren. Es kommt darüber hinaus darauf an, ihnen Freiräume „tätiger Menschlichkeit“ zu eröffnen, die nicht bereits durch normative Vorgaben oder klar umrissene Rechte und Pflichten, so berechtigt diese auch sein mögen, vorgespurt sind. Kinder und Jugendliche müssen selbst ausloten können, wo für sie selbst die Grenze der Erhaltung und Förderung von Leben liegt und für ihre Entscheidung einstehen lernen. Verantwortung kann nur ‚erlernt’ werden, wenn Verantwortung „von den ersten Jahren an“ zumindest partiell zuerkannt oder zugemutet wird.

Von Schweitzers Ethik wissen wir, dass sie nicht in Tugendkatalogen und Regelwerken guten Handelns zu finden ist, die der ethisch Geläuterte glaubt, der bedürftigen schlechten Welt verordnen zu müssen. „Erziehung zur Humanität“ ist nach Schweitzer mit zwanghafter Disziplinierung, Reglementierung und Kontrolle nicht vereinbar. Sie muss immer schon „geistige Selbständigkeit“ und „Freiheit“ voraussetzen, um diese frei-setzen zu können.23

Nun gibt es gegenwärtig nicht wenige, die gerade in der Betonung von Selbständigkeit und Freiheit in der Erziehung einen Irrweg sehen und in den Ruf nach mehr Gehorsam und Disziplin einstimmen. Um sich greifende Disziplinlosigkeit und wachsende Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen in und außerhalb der Schulen bis hin zu „Komasaufen“ oder Vandalismus sind Wasser auf die Mühlen solcher Forderungen. Diese beruhen jedoch auf einem gravierenden Missverständnis. Es wird dabei übersehen, dass Gehorsam und Disziplin nicht ohne „Grund“ und „Sinn“ zu haben sind und sich nicht schon durch Beschneidung des jugendlichen Freiheitsdranges einfach einstellen.

Nicht „Disziplin“ oder Menschen, die ihre geistige Selbständigkeit subalterner Dienstbarkeit opfern, führen zu einer Humanisierung der Gesellschaft. Auf die „ethische Persönlichkeit“24 der vielen Einzelnen kommt es an, die aus einem Miterleben und Mitleiden heraus die Nötigung erfahren, anderem Leben helfend zur Seite zustehen. Wer aus der Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben handelt, fragt nicht nach ihm auferlegten Pflichten und ihm zugeschriebenen Verantwortlichkeiten. Er bringt aus eigenster Freiheit anderem Leben Selbstaufopferung und Hingabe entgegen und entscheidet selbst, wo für ihn jeweils die Grenze der wahrzunehmenden Verantwortung liegt – einer Verantwortung, die ihrem Wesen nach grenzenlos ist.25 Wenn Kinder und Jugendliche ihre Verbundenheit mit nah und fern stehenden Mitmenschen und Mitlebewesen erleben und sich darauf besinnen, das im Bereich ihrer Möglichkeiten Liegende zu tun, um diese zu erhalten und zu fördern, dann stellen sich „Gehorsam“ und „Disziplin“, ohne dass sie eigens reklamiert werden, von selbst ein.

Vertrauen

Schließlich muss eine ‚letzte’ grundlegende Voraussetzung einer ethischen Erziehung und Bildung im Schweitzers Sinne angesprochen werden, die „von den ersten Jahren an“ jegliche Begegnung mit Kindern und Jugendlichen begleiten muss: „Vertrauen“. Handlungsräume zur Wahrnehmung eigenständiger Verantwortung zuerkennen bedeutet immer auch, Verantwortung demjenigen, der sie übernimmt, auch zuzutrauen. Der misstrauische Erzieher beargwöhnt seine Schüler, begegnet ihnen mit Missmut und ist permanent in Hab-Acht-Stellung, um sie zu überwachen und zu disziplinieren. Jener muss sich nicht wundern, dass diese dann genau das tun, was er zu verhindern sucht: nämlich über die zu eng gezogenen Stränge zu schlagen.

Ganz anders der Vertrauende; er gewährt dem Anderen einen Raum unkontrollierter Freiheit, in dem dieser Eigenverantwortung entfalten und Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten entwickeln kann. Auf denjenigen, dem Vertrauen entgegengebracht wird, bleibt eine solche Haltung nicht ohne Wirkung – er erfährt eine eigentümliche innere Nötigung, dem in ihn gesetzten Vertrauen zu entsprechen.26 Er sieht sich angespornt, das in ihn gesetzte Vertrauen nicht zu enttäuschen.

In dem Maße, wie jungen Menschen Vertrauen entgegengebracht wird, kann auch ihr Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten wachsen! Nur wenn sie die Erfahrung machen, dass es auf sie ankommt und sie als Mitarbeiter für eine menschlichere Welt wirklich Ernst genommen werden, steht zu erwarten, dass sie sich zu verantwortlichen ethischen Persönlichkeiten entwickeln.

Albert Schweitzer erkannte die fundamentale Bedeutung des Vertrauens nicht nur für die Erziehung, sondern für jegliche Beziehung zwischen Menschen und Völkern. Nur auf dem Boden gegenseitigen „Vertrauens“ kann sich wahre „Menschlichkeit“ entwickeln wie auch umgekehrt „Vertrauenswürdigkeit“ erst in einer Kultur gedeihen kann, die durch das „Humanitätsideal“ getragen ist.

„Und nur so kommen wir wieder in die Höhe und kann Frieden in der Welt entstehen“.27

  1. Albert Schweitzer: Was sollen wir tun? 12 Predigten über ethische Probleme. Heidelberg ²1986, S. 48.
  2. Schweitzer: Was sollen wir tun?, S. 48.
  3. Albert Schweitzer: Predigten 1998-1948. Werke aus dem Nachlaß, hrsg. v. Richard Brüllmann und Erich Gräßer, München 2001, S. 1133.
  4. Schweitzer, Albert: Wir Epigonen. Kultur und Kulturstaat. Werke aus dem Nachlaß, hrsg. v. Ulrich Körtner u. Johann Zürcher, München 2005, S. 197.
  5. Vgl. Schüz, Gottfried: Lebensganzheit und Wesensoffenheit des Menschen. Otto Friedrich Bollnows hermeneutische Anthropologie. Würzburg 2001, S. 61ff.
  6. Bollnow, Otto Friedrich: Anthropologische Pädagogik, 3. durchg. Aufl. Bern, Stuttgart 1983, S. 69.
  7. Schweitzer, Albert: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III. Werke aus dem Nachlaß, hrsg. v. Claus Günzler u. Johann Zürcher, erster und zweiter Teil, München 1999, S. 296.
  8. An dieser Stelle sei an das ausgezeichnete Buch des leider viel zu früh verstorbenen Pädagogen Friedrich Copei erinnert: Der fruchtbare Moment im Bildungsprozess. Heidelberg 9 1969.
  9. Schweitzer, Albert: Aus meiner Kindheit und Jugendzeit. München 2005, S. 36.
  10. Ebd., S. 37f.
  11. Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie. Bd. I: Verfall und Wiederaufbau der Kultur u. Bd. II: Kultur und Ethik, München 2007, S. 306.
  12. Schweitzer: Kulturphilosophie III, erster und zweiter Teil, S. 284.
  13. Schweitzer: Was sollen wir tun?, S. 26.
  14. Schweitzer: Kulturphilosophie, S. 317.
  15. Schweitzer, Albert: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III. Werke aus dem Nachlaß, hrsg. v. Claus Günzler u. Johann Zürcher, dritter und vierter Teil, München 2000, S. 28.
  16. Vgl. Schweitzer, Albert: Predigten, S. 1133f.
  17. Schweitzer, Albert: Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze. Werke aus dem Nachlaß, hrsg. v. Claus Günzler u.a., S. 214.
  18. Schweitzer: Kulturphilosophie III, dritter u. vierter Teil, S. 29.
  19. Vgl. Günter Altners gleichnamiges Buch: Naturvergessenheit. Grundlagen einer umfassenden Bioethik. Darmstadt 1991.
  20. Schweitzer: Wir Epigonen, S. 184.
  21. Vgl. Hölderlin in der Hymne „Patmos“, zit. n. Bollnow, Otto Friedrich: Wächst das Rettende? In: Zeitwende. Die Neue Furche, 48. Jg., Apr. 1977, S. 113.
  22. Schweitzer: Kulturphilosophie, S. 316.
  23. Vgl. Schweitzer: Wir Epigonen, S. 191.
  24. Vgl. Schweitzer: Kulturphilosophie, S. 291f.
  25. Vgl. ebd., S. 309.
  26. Vgl. Zur anthropologischen Bedeutsamkeit des Vertrauens vgl. Schüz, Gottfried: Lebensganzheit und Wesensoffenheit des Menschen, S. 164-191. 7 umgekehrt „Vertrauenswürdigkeit“ erst in einer Kultur gedeihen kann, die durch das „Humanitätsideal“ getragen ist. „Und nur so kommen wir wieder in die Höhe und kann Frieden in der Welt entstehen“.
  27. Vgl. Schweitzer: Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze, S. 214, 216.