„Erlebt der Mensch seine Verbundenheit mit allen Wesen, so entspringt daraus die Nötigung zu einem ins Uferlose gehenden Dienen.“
Schweitzer betrachtete den technischen Fortschritt und die Kulturentwicklung Anfang des 20. Jahrhunderts mit tiefer Sorge. Neben dem ungeheuren Zuwachs an Wissen und Können musste er feststellen, dass der moderne Mensch ethisch-geistig immer mehr verkümmert. In allen Bereichen sah Schweitzer die Gefahr zunehmender Unmenschlichkeit aufziehen. Er erkannte, dass die Zukunft der Menschheit davon abhängt, ob es gelingt, ein tragfähiges Fundament der Ethik zu finden, das alle weltanschaulich-religiösen und kulturellen Unterschiede der Völker überbrückt. Dieses Fundament entdeckte er in der „Ehrfurcht vor dem Leben“ – eine neue Humanitätsgesinnung, die sich für alles Leben auf dieser Erde verantwortlich fühlt.
Wie aber lässt sich dieser Gedanke der Ehrfurcht vor dem Leben, die sich für alles Leben der Erde verantwortlich weiß, begründen? – Das ethische Denken geht von der „unmittelbarsten und umfassendsten Bewusstseinstatsache“ aus: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.
“Wer über diese Tatsache tiefer nachdenkt, erkennt seine Verbundenheit mit allem Leben, ja mit dem Sein im Ganzen, dessen Teil er ist. Die Wahrhaftigkeit gegen sich selbst und seine Mitwelt nötigt einen, daraus die entsprechende Konsequenz zu ziehen: „Ethik besteht also darin, dass ich die Nötigung erlebe, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Damit ist das denknotwendige Grundprinzip des Sittlichen gegeben. Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern, böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen.“
Wie weit die miterlebende und helfende Anteilnahme an anderem Leben zu gehen hat, muss jeder selbst entscheiden. Sie führt zu einer „ins Grenzenlose erweiterten Verantwortung gegen alles, was lebt.“
Wie sich diese unbegrenzte Verantwortung im Handeln konkretisiert? – Dazu einige von Schweitzers zahlreichen Beispielen: „Er (der Mensch) reißt kein Blatt vom Baume ab, bricht keine Blume und hat acht, dass er kein Insekt zertritt … Geht er nach dem Regen auf der Straße und erblickt den Regenwurm, der sich darauf verirrt hat, so bedenkt er, dass er in der Sonne vertrocknen muss, wenn er nicht rechtzeitig auf Erde kommt, in der er sich verkriechen kann, und befördert ihn von dem todbringenden Steinigen hinunter ins Gras.“ Ferner ist Albert Schweitzer zur Schonung der Tiere zur vegetarischen Ernährung übergegangen. „Meine Ansicht ist, dass wir, die für die Schonung der Tiere eintraten, ganz dem Fleischgenuss entsagen und auch gegen ihn reden. So mache ich es selber.“
Allerdings gerät der Mensch immer wieder in den Konflikt, Leben schädigen oder vernichten zu müssen, um das eigene oder anderes Leben zu erhalten. Trotzdem hält Schweitzer an der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Lebewesen und Lebensformen unerschütterlich fest: „Dem wahrhaft ethischen Menschen ist alles Leben heilig, auch das, das uns vom Menschenstandpunkt aus als tieferstehend vorkommt. Unterschiede macht er nur von Fall zu Fall und unter dem Zwange der Notwendigkeit, wenn er nämlich in die Lage kommt, entscheiden zu müssen, welches Leben er zur Erhaltung des anderen zu opfern hat. Bei diesem Entscheiden ist er sich bewusst, subjektiv und willkürlich zu verfahren und die Verantwortung für das geopferte Leben zu tragen zu haben.“
Wie viele Lebewesen werden aus Gedankenlosigkeit, Bequemlichkeit oder gar zum sportlichen Vergnügen unnötig geschädigt oder getötet. Wie viel Schädigung anderen Lebens, wie viel Schmerz und Leid könnte vermieden werden, wenn jeder Einzelne im Alltag die Notwendigkeit seines Tuns vor seinem Gewissen prüfen würde!
„Allen tut uns Selbstbesinnung not, die uns aus dem Dahinleben erwachen lässt. In den alten Verhältnissen müssen wir neue Menschen werden, um neue Zustände schaffen zu können.“