Von Eberhard Pausch
Bericht von der Diskursinsel „Ehrfurcht vor dem Leben: Schlüsselbegriff für nachhaltige Entwicklung“ am 23. September 2019
Die „Diskursinsel“ zum Gedenken an das Wirken Albert Schweitzers fand am 23. September 2019 in der Ev. Akademie Frankfurt statt. Es fanden sich 45 sehr interessierte und keineswegs nur überalterte Gäste ein, die das Denken und Wirken Schweitzers unter dem Gesichtspunkt der „nachhaltigen Entwicklung“ diskutierten. Die Referenten, Prof. Dr. Werner Zager und Dr. Roland Wolf, führten mit Impulsreferaten in die Thematik ein und standen anschließend als kenntnisreiche Auskunftspersonen zur Verfügung.
(Als „Diskursinsel“ definiere ich ein plenares Veranstaltungsformat, bei dem sich an fundierte Impulsvorträge eine Podiumsphase mit anschließender Öffnung für das Publikum anschließt.)
Erstaunlich war die Aktualität Schweitzers nach dem Maßstab der 17 „Sustainable Development Goals“. Die Ziele „Frieden“, „Ernährungssicherheit und nachhaltige Landwirtschaft“, „Wasser und Hygiene“, „Armutsbekämpfung“, „Gesundheit“ spielten für Schweitzer zu seiner Zeit eine wesentliche Rolle. Dass er 1953 den Friedensnobelpreis erhielt, belegt sein herausragendes Engagement für den Frieden, das nach dem Wunsch des UN-Generalsekretärs Antonio Guterres als das wichtigste der 17 Ziele an den Anfang der Liste gehört. Eine der auf dem Podium gestellten Fragen lautete: „Wenn sich heute Albert Schweitzer und Greta Thunberg begegnen würden, was hätten sie sich zu sagen?“. Die klare Antwort beider Referenten: Schweitzer würde mit Greta Thunberg für das Klima protestieren und ihr Engagement sehr wahrscheinlich in vollem Umfang bejahen und unterstützen.
Natürlich lässt sich nicht alles 1:1 in die Gegenwart übertragen. Als Albert Schweitzer 1913 nach Lambarene ging, um sein Hospital zu gründen, stand der Kolonialismus in voller Blüte. Der imperialistische Machtrausch der Mächte, der sich gerade auch auf dem Kontinent Afrika in großer Rücksichtslosigkeit und auch Grausamkeit austobte, war in vollem Gange. Auch Schweitzers Äußerungen über die einheimische Bevölkerung Gabuns klingen aus heutiger Sicht abwertend bis rassistisch – selbstverständlich redete er (ganz im Geist der damaligen Zeit) von „Negern“ und „Primitiven“. Auf der anderen Seite hatte er bereits 1905 in seinen Predigten den durch Deutschland verschuldeten Genozid an den Herero heftig kritisiert. Diese Kritik teilten seinerzeit in Deutschland allenfalls im Reichstag die oppositionellen Sozialdemokraten.
So bleibt er einerseits ein Mensch seiner Zeit und andererseits ein Mensch, der seiner Zeit weit voraus war und friedens- sowie entwicklungspolitische Impulse gab, die auch für unser heutiges Handeln noch orientierend sein können. Sein philosophischer Grundsatz der „Ehrfurcht vor dem Leben“ ist dabei besonders hilfreich. Denn überschaut man die Geschichte der Ethik, so lässt sich in vielen Kulturen beobachten, dass am Anfang der Ethik in der Regel die Ausbildung einer Pflichten- und Tugendlehre steht. Im Zuge der weiteren denkerischen Durchdringung des Ethischen entsteht dann „die Nötigung, nach einem letzten und allgemeinsten Prinzip zu suchen, in dem all das verschiedenartige Gute der einzelnen Tugenden und Pflichten wie in einem Hauptnenner gegeben ist“. Als ein solches ethisches Grundprinzip beurteilt Schweitzer die von Jesus verkündete Nächstenliebe. Schweitzers ethisches Grundprinzip der „Ehrfurcht vor dem Leben“ ist nichts anderes als das in die philosophische Sprache übersetzte christliche Liebesgebot. Allerdings kommt noch hinzu, dass das Schweitzer’sche Grundprinzip eine größere Reichweite besitzt, insofern es sich auf alles Lebende bezieht. Genau deshalb kann es auch als Leitmotiv verstanden werden, das hinter den 17 Sustainable Development Goals steht und deren Einheit und nicht-additive Struktur transparent macht.
(Dr. Eberhard Pausch, Pfarrer und Studienleiter der Ev. Akademie Frankfurt)