Von Klaus Stoevesandt
In diesem Monat erscheint eine neue Ausgabe der Albert-Schweitzer-Reflexionen als Band 4: „Albert Schweitzer und Albert Camus – Ein gemeinsamer medizinischer Humanismus“. Der Leitartikel von Jean-Paul Sorg mit dem gleichen Titel in diesem Buch wurde wie dort beschrieben aus dem Französischen übersetzt. So entstand die im Deutschen eher ungewohnte Wortkombination aus der Übersetzung des französischen Begriffes „humanisme médical“. Als Herausgeber markiert Dr. Gottfried Schüz den Grundstein dieser neuen Ausgabe im Klappentext mit der Aussage, der „gemeinsame medizinische Humanismus“ von Schweitzer und Camus werde „zum Sinnbild eines bedingungslosen Bekenntnisses zur Bewahrung des Lebens im Hier und Jetzt“. Ein gemeinsamer medizinischer Humanismus bei zwei so unterschiedlichen Persönlichkeiten? Bleibt ein solcher Vergleich nicht gewagt schon wegen dieses für uns ungewohnten Begriffes? Dass er hochaktuelle Aspekte offenzulegen vermag, könnte jedoch auch für unsere Zeit mehr als deutlich werden.
Gibt man mit diesen Stichworten einen Suchauftrag ins Internet ein, so sind nur wenige Hinweise, eher solche auf antike Schriften zu finden, zum Beispiel auf Hippokrates von Kos ( 460 – 370 v. Chr.) oder Galenos von Pergamon (ca. 130 – 210). „Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil; ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht.“ So lautet ein kurzer Abschnitt aus dem Eid der Ärzte, den Hippokrates vor fast 2500 Jahren verfasst hatte. Für die Kinder- und Altenheilkunde werden für diese Stichworte Schriften von Roger Bacon (1214 – 1292) genannt, die hier dem ärztlichen Handeln einen deutlichen humanistischen Impuls zuordnen. Ging es zu jener Zeit offenbar auch darum, die lebensbedrohte frühe Kindheit der damaligen Zeit so gut wie irgend möglich schützen und für ein gesundes und erfülltes Leben auch alter Menschen sorgen zu können.
Verzichtet man auf das Adjektiv oder sucht man unter „ärztliche Ethik“, bieten sich natürlich umfangreichere Möglichkeiten an, die über die verschiedensten Richtungen des Humanismus oder auch über ethische Fragen zum ärztlichen Handeln informieren. Hervorzuheben sind hier die beiden ausführlichen lexikalischen Einträge bei Wikipedia. Lässt sich also mit der ersten, oben genannten Wortkombination nur eher Kulturgeschichtliches aus älteren Zeiten ermitteln? Könnte man stattdessen auch von „medizinischer Humanität“ sprechen? Fehlt der Bezeichnung „medizinischer Humanismus“ eine Bedeutung für unsere Zeit?
Schauen wir jedoch in unsere von Naturkatastrophen und von Großmachtinteressen gepeinigte Welt, so finden wir so viele Ärzte und Helfergruppen, die hier uneigennützig unterwegs sind, um das ausufernde Elend dort zu lindern, wo es nur irgend möglich ist. Hier wären zu nennen die „Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ (IPPNW), die „Ärzte ohne Grenzen“, die „Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung“, die „Ärzte für die Dritte Welt (German Doctors)“ oder das von Rupert Neudeck und Heinrich Böll gegründete Unternehmen „Cap Anamur“. Alle diese von Spendern unterstützten Aktionen der Nothilfe, deren Liste sicher noch weiter ergänzt werden müsste, hatten sich als Nichtregierungsorganisationen (NGOs) entwickelt. Könnte man solche Nothilfen nicht mit Recht das gemeinsame Merkmal eines „medizinischen Humanismus“ zusprechen? Vorbehaltlose, konkrete Hilfe für das Leben und Überleben in Not und Bedrängnis, dort wo sie wahrgenommen wird, bildet hier doch das Prinzip des Handelns.
Wem würden bei der großen Zahl humanitärer Helfer nicht die Samariter oder gar die von dem Arzt und Evangelisten Lukas erzählte Geschichte vom „Barmherzigen Samariter“ (Luk. 10: 25 – 37) einfallen. Lukas ist ja der einzige Evangelist, der diese allgemein bekannte Geschichte erzählt hat, die auffordert, dem Nächsten aus Not zu helfen, wo er einem begegnet.
Im Jahre 1961 schrieb Albert Schweitzer einen kurzen Essay über die Geschichte der Humanität, jedoch ohne den Zusatz „medizinisch“ dabei zu verwenden. Den letzten Abschnitt dieser späten Schrift beginnt er mit einem mahnenden Ruf, der wohl auch in unsere bedrohte Zeit hineinreicht: „In der Menschheitsgeschichte von heute handelt es sich darum, ob die Gesinnung der Humanität oder die Inhumanität zur Herrschaft gelangt.“ (Schweitzer, Albert, „Humanität“, in: „Die Ehrfurcht vor dem Leben“, hrsg. v. H. W. Bähr, München 2008, S. 132). Damals klang sein Essay noch hoffnungsvoll. Doch auch heute bewegen wir uns immer noch auf jenem schmalen Grat zwischen diesen völlig gegensätzlichen Gesinnungen.
Fast 60 Jahre vorher entschloss sich der Dr. phil. und Dr. theol. Albert Schweitzer, Dozent an der theologischen Fakultät an der Universität zu Straßburg, seine akademische Laufbahn zur Professur abzubrechen, um im Jahre 1905 mit 30 Jahren ein Medizinstudium neu zu beginnen. Verständlicherweise reagierten Freunde und Verwandte ihm gegenüber damals meistens mit krassem Unverständnis. Als Arzt wollte er ohne Worte in der Nähe einer Missionsstation im afrikanischen Urwald helfen, die bittere Not der Kranken unter den Eingeborenen zu lindern. Er sah darin für sich selbst eine Verpflichtung angesichts der Schäden, die der europäische Kolonialismus jener Zeit vor allem in Afrika angerichtet hatte zu einer Art der Wiedergutmachung. Erst 1913 nach seiner Promotion zum Dr. med. und nach seiner Heirat mit Helene Bresslau, die ihn auf diesem langen zusätzlichen Wege ständig unterstützt hatte, konnte er beginnen, als Arzt in Lambarene in der französischen Kolonie Gabun zu wirken, und dort die Keimzelle seines heute noch bestehenden weltbekannten Hospitals am Ogowe aufzubauen.
Mittlerweile sind die Kolonien in Afrika befreite, selbstständige Staaten. Doch die Folgen des von Europa und den Großmächten praktizierten Neokolonialismus mit den Verführungen zur Korruption bestehen bis heute. Gut gemeinte Entwicklungshilfen haben daher meist wenig bewirkt, und so bleiben viele Hilfsorganisationen, auch wenn manche Erfolge vor Ort erreicht wurden, im Ganzen immer weiter gefordert.
Und so ist auch an die Flüchtlingskrise von 2015 zu denken, die in den genannten Zuständen und in kriegerischen Auseinandersetzungen ihre tiefen Ursachen hatte. Zu Recht ließe sich der noch selten gehörte Begriff eines medizinischen Humanismus auf viele spontane Aktionen damals in Deutschland, Frankreich und einigen wenigen anderen europäischen Staaten anwenden. Der schmale Grat zwischen humaner und inhumaner Gesinnung wird schmerzlich fühlbar in den Rettungsaktionen für die schiffbrüchigen Flüchtlinge im Mittelmeer, die von Regierungen als illegal eingestuft verhindert und bestraft werden.
Viele, die sich hierzu mehr oder weniger lautstark zu Wort melden, waren nicht bereit, das weit zurückreichende Feld der Ursachen dieser Krise mit zu bedenken. In Herrscherattitüde verlangen sie abweisend wie Herrenmenschen, die Grenzen Europas, oder gar die nationalen Grenzen zu schließen und verweigern damit Hilfe in der Not. Im Anfang dieser Krise gab es dagegen in großer Zahl Menschen, die in persönlicher Verantwortung der Stimme ihres Herzens folgten und sich in spontanen Netzwerken für die Menschen einsetzten, die in Not aus ihrer Heimat geflohen waren. Eine Sternstunde der Menschlichkeit? – Eine Überforderung? Es wird auch schwer sein, festzustellen, wieviel praktizierende und auch pensionierte Ärzte bei der medizinischen Erstversorgung der eingetroffenen Flüchtlinge mit geholfen haben, notwendige Hilfe zu veranlassen. Dies geschah ohne einen vorher erarbeiteten administrativen Katalog von Handlungsanweisungen. Die unmittelbar menschlichen Begegnungen mit denen, die Not litten, und die Mitleid mit jenen empfanden, bildete hier oft Ausgangspunkte zum persönlich verantworteten Handeln. Für Albert Schweitzer zeigen solche Ausgangspunkte geistige Macht, weil Menschen hier „nicht kalt nach ein für allemal festgelegten Prinzipien entscheiden, sondern in jedem Falle um ihre Humanität kämpfen.“ (Schweitzer, Albert, „Kulturphilosophie“, München 2007, S. 325).
In diesen Beispielen verdeutlichen sich die Merkmale dessen, was wir als medizinischen Humanismus bezeichnen wollen. Es ist dies ein ausgesprochen unideologischer und sehr bescheidener Humanismus, der keine heile Welt erstrebt, sondern nur gegen das Unheil kämpft, wo es konkret Leben bedroht. Dieser weiß sich aber vorbehaltlos der gesamten Menschheit verpflichtet, um Leben aus Not und Ungerechtigkeit zu retten, wo immer dies irgendwie möglich werden kann. Auch willkürliche staatliche Macht, die Grundrechte des Menschen missachtet, verursacht oft solche Not innerhalb menschenverachtender Ungerechtigkeiten. Sie fordert heraus, dann auch auf illegalen Wegen Menschen vor der Vernichtung zu retten.
So erlebte es Albert Camus im von den deutschen Truppen besetzten Frankreich. Aus seiner inneren Wahrnehmung, wie er sich Leben vorstellt, richtet sich sein Schrei gegen einen fiktiven, wohl ehemaligen deutschen Freund im Juli 1944: „Ihr abschätziges Lächeln wird sagen: Was heißt das, den Menschen retten? Ich aber schreie es Ihnen mit jeder Faser meines Wesens zu: es heißt, ihn nicht verstümmeln, und es heißt, der Gerechtigkeit, die er als einziger sich vorzustellen vermag, ihre Chance gewähren.“ (Camus, Albert, „Vierter Brief an einen deutschen Freund“, in: „Fragen der Zeit“, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 29f). Und sein Pestarzt Dr. Rieux antwortet dem Pater Panelou, als dieser anerkennend ausspricht, auch er, der Arzt, wirke ja für das Heil des Menschen: „Das Heil des Menschen ist ein zu großes Wort für mich. Ich gehe nicht so weit. Mich interessiert seine Gesundheit, in erster Linie seine Gesundheit.“ (Camus, Albert, „Die Pest“, Reinbek bei Hamburg 2014, S. 248).
Dr. Rieux stellt sich diesen viel bescheideneren Humanismus vor, der dort, wo Krankheit herrscht, zur Gesundung des Lebens beitragen möchte, wo immer dies erreicht werden kann. Ein solcher medizinischer Humanismus, für den auch Albert Schweitzer gelebt hatte, fühlt sich keiner Heilslehre verpflichtet, sondern möchte zum Leben verhelfen, wo und wann es bedroht ist.
Trügt die Wahrnehmung, dass die Bedrohungen des Lebens seit diesen schon vergangenen Tagen eher zu als abgenommen hätten. Vom Frieden innerhalb der Menschheit, vom Frieden mit der Natur sind wir weiter denn je entfernt. Heilslehren werden zu Hauf verbreitet. Doch das Heer der Samariter, die für den bescheideneren medizinischen Humanismus leben, bleiben auf Spenden angewiesen. Sie sind eben keine börsennotierte Wirtschaftsmacht.