Von Walter Schiffer
In Nordrhein-Westfalen sieht der Lehrplan für die gymnasiale Oberstufe im Fach Evangelische Religionslehre (Einführungsphase – Klasse 10) eine Ethik-Unterrichtsreihe vor. In diesem Rahmen thematisierte ich Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben.
Nach der Bearbeitung des Heftes „Albert Schweitzer – wissenswert“ und einzelner Passagen aus seiner Ethik schloss sich eine kleine Projektphase an, in der die Schülerinnen und Schüler die Einsichten auf konkrete Fälle anwendeten: Tierversuche, Tragen von Pelzen, Jagd und Vegetarismus etc. Abschließend gaben die Jugendlichen schriftlich eine persönliche Stellungnahme ab.
Wenn diese Texte auch nicht zeigen können, was heute „der Jugendliche an sich“ zur Ethik Schweitzers denkt bzw. ob er danach handelt, so erhält man doch einen kleinen Einblick, welchen Wert sie für deren ethische Urteilsfindung haben kann. Um es vorab zu sagen: Fast einstimmig bewerteten die ca. 16-Jährigen die Ehrfurchtsethik positiv und für die Praxis hilfreich. Da sich Schweitzer bekanntlich gegen eine relativistische Ethik ausspricht (das Böse wird nicht gut, wenn es zu ihm keine Alternative gibt), wurde immer wieder die Frage des Schuldigwerdens besprochen. Einige Schüleräußerungen dazu: „Meiner Meinung nach sollte man sich nach keinem Regelwerk, wie z. B. Zehn-Gebote, richten, sondern lieber sein eigenes Gewissen entscheiden lassen. Ein Regelwerk würde dem meiner Meinung nach nur im Weg stehen, denn man bekommt alles vorgeschrieben.“
„Ich denke, dass, auch wenn man sich schuldig macht, es richtig ist, eine ethische Entscheidung zu treffen bzw. sein Gewissen zu prüfen. Der Aspekt der Schuld lässt einen sogar noch genauer über die Entscheidung nachdenken. Nun steht nicht nur ‚das Richtige‘ zu tun im Vordergrund, sondern auch individuell mit der Entscheidung leben zu können. Hierbei machen ein Ethik-Rat oder Kodex, der einem die Entscheidung abnimmt, die Entscheidung zwar leichter, allerdings kann dadurch nicht die Schuld von einer Person genommen werden, nur weil die Entscheidung nicht seine eigene war. Am Ende geht es meiner Meinung nach vor allem darum, die individuelle, situative Gerechtigkeitsvorstellung zu entwickeln und in solchen Fällen einzusetzen.“
„Es besteht immer die Möglichkeit bei einer ethischen Entscheidung schuldig zu werden. Das stellt meiner Meinung nach kein Problem dar, weil man mit jedem Handeln schuldig werden kann. Ich werde mir allerdings keine Vorwürfe wegen der Schuld, die ich zu verantworten habe, machen, da man es nun mal selten jedem Recht machen kann und durch das situative Abwägen versuche ich immer, die aus meiner Sicht beste Entscheidung zutreffen.“
„Ich würde mich bereits bei der Anprobe eines Pelzmantels schlecht fühlen, da ich weiß, dass die Pelze größtenteils aus Pelzfarmen stammen, in denen die Tiere qualvoll leben, um zum Mantel verarbeitet zu werden und ihn deshalb nicht kaufen. Auch die Schuldfrage spielt für mich dabei eine große Rolle – ich kaufe einen Pelzmantel und trage somit noch zu dem Missbrauch von Tieren bei. Für mich persönlich kann ich dies nicht verantworten.“
„Der Mensch steht an oberster Stelle auf der scala naturae. […] Wenn ich mir ein Medikament kaufe, dann muss mir bewusst sein, dass vorher Tiere gelitten haben, damit dieses Medikament für mich erprobt wurde. So etwas gibt mir jedoch auch Sicherheit, aber ebenfalls Schuld.“
Diese kleine Auswahl von Äußerungen macht deutlich, wie sehr diese Jugendlichen bereit sind, das Für und Wider ihrer Handlungen anhand von Schweitzers Ehrfurchtsidee zu überdenken und die Verantwortung dafür persönlich auf sich zu nehmen. Ein beredtes Zeugnis dafür, dass Schweitzers Ethik für Jugendliche auch heute volle Überzeugungskraft haben kann.