Eloge auf das Beten

Von Albert Schweitzer, eingeleitet von Daniel Neuhoff

Albert Schweitzer empfand Dankbarkeit und Freude, wenn er andere an seinem reichen Innenleben teilnehmen lassen durfte. In direkter Form geschah dies durch seine zahlreichen Predigten, die er unter anderem als Vikar zu St. Nicolai in Straßburg hielt. Die nachfolgende Predigt aus dem Jahr 1904 über den Sinn des Betens ist ein zeitlos inspirierendes Meisterstück, das die Feinheit und Tiefe seines Denkens widerspiegelt.

… Denn siehe, das ganze Reich Gottes, das in uns ist, steht im Gebet. Und wie viele gibt es unter uns, die sind nahe und doch fern und stehen vor dem Tore des Reiches Gottes und finden die Pforte nicht, weil sie nicht beten können.

Was ist denn das Besondere an diesem Gebet, dass Jesus von ihm sagt, er sei gerechtfertigt hinuntergegangen, den Himmel im Herzen? Das Besondere liegt zunächst in dem, worum er nicht betet. Als er die Stufen des Tempels heraufschritt, da dachte er an seine Armut, an seinen schweren, verachteten Beruf; er hatte vielleicht zu Hause Frau und Kinder, die er nicht wusste, wie durchbringen, und die Schmach und Schande seines Berufes lastete schwer auf ihm. Das alles hatte er im Gebet vor Gott bringen wollen. Als er aber vor dem Herrn stand, dachte er an nichts Irdisches mehr, sondern nur an seine Seele. Darum ging er gekräftigt und neugeboren aus diesem Gebet hervor.

Warum ist denn unser Gebet nicht das rechte? Warum finden wir nicht darin den Trost und die Erquickung, die wir so notwendig brauchten zum Leben? Weil, meine ich, zu viel Irdisches an unserm Gebet klebt und es beschwert. Unser Herr hat gesagt: „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen“ [Mt. 6,33]. Das gilt vor allem im Gebet. Gewiss, wir wissen es alle, was für eine Beruhigung und welcher Trost es ist, alle irdischen Sorgen auch vor Gott bringen zu dürfen, aber höher ist das Gebet, wo wir unser inneres Leben vor Gott bringen – höher und kräftiger, denn es wird immer erhört. Wie sind doch die Menschen so oberflächlich, wenn sie von Gebetserhörung sprechen. Da meint man, ob das Gebet etwas sei oder nicht, das hänge davon ab, dass nun auf eine irdische Menschenbitte Gott in irgendeiner Weise in den Weltlauf eingreife, damit der vielleicht törichte Wunsch eines Menschen erhört werde. Nun sieh, das sind eitel kleine Menschengedanken; hier in diesem Gleichnis, da steht die wahre, nie versagende Gebetserhörung. Sie trifft sicher ein, wenn du für das allein Wahrhaftige betest: für die Gnade Gottes.

In allen Glaubensbekenntnissen und Katechismen fehlt mir etwas bei der Lehre von der Sündenvergebung, was mir sie eigentlich erst recht verständlich macht. Sie lehren nämlich, es gäbe Sündenvergebung für die Menschen, weil Christus für uns gelitten hat und für uns Sühne geleistet hat. Aber wo empfängt denn der Mensch diese Vergebung? Wo wird er froh und gewiss? Nur im Gebet. Siehe, alles andere ist Nebensache.

Der Zöllner weiß noch gar nichts von der Sündenvergebung, die Christus erworben hat, er weiß nur, dass es Gnade braucht, um ihn wieder aufzurichten und zu stärken, und darum betet er – und was er bittet, wird ihm gegeben. Siehe, so kommt es auch gar nicht darauf an, wie wir uns nun vorstellen, dass wir Sündenvergebung haben durch Christus ob seines Leidens willen – manchmal meine ich, wir werden es nie verstehen – sondern nur, dass wir alles andere im Gebet bei Seite lassen und Gott aus tiefster Seele um seine Gnade bitten. Wer von euch wahrhaftig weiß, was Sündenvergebung ist, wer weiß, was es heißt, von der schweren Last befreit zu werden und wieder aufgerichtet weiterzugehen im Leben, der weiß, es ist ihm alles gekommen aus dem Gebet, nur aus dem Gebet.

Und zuletzt, was ist eigentlich das Wunderbarste an dem Gebet des Zöllners? Dass er überhaupt noch betet. Er ist verstoßen und verachtet und weiß, dass er nach dem Gesetz des Alten Testaments zu den Verworfenen und Verdammten gehört, die Pharisäer und Schriftgelehrten sprechen ihm das Recht ab, zu beten im Tempel, und er selbst weiß nicht, mit welchem Recht er betet, er weiß nur, er muss beten. Und darum betet er. Siehe, das ist das Furchtbare in unserer Zeit, dass diejenigen, die so tief gefallen, dass nur Gott allein ihnen helfen kann und ihnen wieder Lebensfreudigkeit geben kann, dass diese nicht daran denken und es nicht mehr wagen, vor sein Angesicht zu kommen, dass er sie befreie.

Darum sage ich es den Konfirmanden eindringlich in der letzten Stunde, wo ich sie versammelt habe: Vergesst es nicht, ihr dürft immer beten. Ich weiß nicht, wohin euch euer Weg führt, ob aufwärts oder abwärts. Aber siehe, und wenn es mit einem von euch soweit kommen sollte, dass er keinem Menschen mehr ins Angesicht sehen darf, auch vor sich selbst gar keinen Respekt mehr haben darf, das eine vergesse er nicht: Vor Gott darf er immer treten.

Ich weiß nicht, ob welche unter euch sind, die nur noch, mehr als einmal, das Zöllnerrecht hatten, zu Gott zu beten, aber ich meine manchmal, Gott müsse auch manche Menschen, die ihm anhangen und ihn lieben und die sich befleißigen wollen, als seine Kinder zu leben, tief erniedrigen und fallen lassen, damit sie ihn in der Verzweiflung erst recht finden, während er andere auf ebenem Pfade zu ihm gelangen lässt.

Morgenpredigt Sonntag, 14. August 1904, St. Nicolai, Lk. 18.9-14, Pharisäer und Zöllner

Quelle: Albert Schweitzer. Predigten 1898-1948. Werke aus dem Nachlass im Verlag C.H. Beck, 2001. ISBN 3 406 46997 3, S. 587-589