Von Konstanze Schiedeck
Dem Arzt, Theologen, Philosophen, Musiker und Baumeister von Lambarene, Dr. Albert Schweitzer, war es vergönnt, innerhalb von vier Jahren dreimal über Johann Wolfgang von Goethe in Frankfurt zu sprechen. Dies hatte er seinem Freund, Ernst Beutler, zu verdanken. Und wieder war es am 19. 9. 2019, ein Arzt, nämlich Dr. Einhard Weber, bis Mai Vorsitzender des Deutschen Hilfsvereins für das Albert Schweitzer-Spital in Lambarene e. V., der seine Kenntnisse und Verbundenheit mit beiden Personen am Abend im Hörsaal des Freien Deutschen Hochstifts zum Ausdruck brachte.
Goethe und Schweitzer, beide hatten keinen guten Start ins Leben. Goethe kam bei seiner Geburt ganz schwarz zur Welt und auch Schweitzer wurde blässlich geboren, so erfahren wir. Die Eltern mussten sich Sorgen um ihren Sohn machen.
Räumlich nahe kamen sich beide in Straßburg. Am Alten Fischmarkt Nr. 36 mietete sich Schweitzer als Student ein. Zufällig war es genau die Bleibe, die Goethe vor gut 120 Jahren bewohnt hatte. Beiden war es gegeben, sich pflichtbewusst einzusetzen, sie waren Europäer, Kosmopoliten und Kriegsgegner, also „Humanisten im allerbesten Sinne des Wortes“, so Dr. Weber.
Goethes dichterisches Werk habe Schweitzer sein ganzes Leben lang begleitet, führt er weiter aus. Goethes Harzreise vom Winter 1777 gab ihm in schwierigen Zeiten Halt. „Das ist deine Harzreise“, habe Schweitzer immer im Sinn gehabt, wenn er in bedrückende Situationen kam.
Goethes weltanschauliches Denken beeinflusste seine Philosophie und sein Selbstverständnis. Goethe und Schweitzer waren zwei selbstbewusste, aber zugleich auch demütige Menschen.
Besonders intensiv beschäftigte sich der Urwaldarzt anlässlich des 100. Todestages von Goethe mit dem Dichterfürsten, bevor er am 22.3. 1932 in der Frankfurter Oper seinen Vortrag hielt. Beim Eintauchen in die Dichtkunst fühlte er sich reich beschenkt. Goethe war für ihn „in einer Zeit geistiger Verwirrung“,(1) so Verena Mühlstein, der „Verkünder echten und edlen Menschentums“.(2) Schweitzer beginnt sein Rede wie folgt: „Des Hinscheiden Goethes gedenken wir in der gewaltigsten Schicksalsstunde, die je für die Menschheit geschlagen hat“.(3)
Schon während seines Studiums der Philosophie hatte Schweitzer Goethe näher kennen gelernt. 1923 bezog er dazu Stellung. „Die Ehrfurcht vor der Wirklichkeit der Natur“, habe ihn beeinflusst, aber auch „das Unerforschliche anzuerkennen“ und wahr zu haben, dass es genug Geheimnisse gibt, so Dr. Weber, und er fährt weiter fort: „In fremdem Denken klärte er sein eigenes Denken“.
Goethe, wie auch Schweitzer, lehnten jede Spekulation über eine transzendente Welt ab. Der Naturforscher glaubte an die Evolution der Natur, der Mensch entwickle sich, in ihm erhebt sich die Natur zum Ethischen. Es sei Aufgabe des Menschen, ethisch zu werden und den liebenden Gott in der Welt zu offenbaren.
Im Faust übersetzt Goethe, angelehnt an das Johannes Evangelium 1,1, das griechische Wort „logos“ (λȯγօς) mit Wort – Sinn – Kraft – Tat. (4) Den Sinn des Lebens zu erkennen, sei nicht möglich. Nur indem der Mensch tätig wird, gibt er seinem Leben einen Sinn. Der Sinn der Welt erfülle sich, wenn jeder seine Aufgabe erfüllt. Das Gute ist zu entwickeln, dem Bösen zu widerstehen. Goethes Ethik ist beherrscht von dem Gedanken edel zu werden. Vgl.: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“. Gott, der Inbegriff des Geistigen, verfüge auch über die Fülle der Liebe. Immateriell sind unsere Gedanken. Unsere lebendige Unsterblichkeit lebt nur in den Gedanken der Menschen weiter, die unsere Gedanken weiterdenken. Der evangelische Theologe Helmut Thielicke äußerte: Goethes Leben sei ein „Vielfarbendruck“. Wer die jüngst in Bonn gezeigte Ausstellung „Goethe. Verwandlung der Welt“ gesehen hat, wird dem zustimmen können.
Am 28.10. 1906 schreibt Schweitzer an Helene: „… was ist denn Gott? Etwas Unendliches, in dem wir ruhen! Aber es ist keine Persönlichkeit, sondern es wird Persönlichkeit erst in uns. Der Weltgeist (sic) der in dem Menschen zum Bewusstsein seiner selbst kommt.“(5)
Schweitzer fand seine Lebensbestimmung in der Nachfolge Jesu, Goethe war für ihn „keine Ikone“, so der Vortragende.
Weitere Übereinstimmung gab es in ihrer Auffassung, was das Helfen betraf.
Goethe half im Stillen, er versagte sich niemandem, der der Hilfe bedurfte, dabei stellte er auch größere Geldmittel zur Verfügung. Auch auf der Harzreise 1777 besuchte er den gemütskranken Friedrich Victor Leberecht Plessing, obgleich er sich selbst in einer aufgewühlten Gemütslage befand.
Goethe und Schweitzer, beide waren Universalgenies. Sie zeichneten sich aus durch eine bewusste, selbstständige Lebensgestaltung. Im Ethischen sahen sie die höchste Wahrheit und höchste Zweckmäßigkeit.
Als der Vortragende endete, war das Publikum tief bewegt und dankte mit anhaltendem Beifall. Eine größere Zuhörerschaft wäre zu wünschen gewesen.
Anmerkungen
(1) Verena Mühlstein: Helene Schweitzer Bresslau. Ein Leben für Lambarene, C.H. Beck, München, 1998, S. 225
(2) Mühlstein, s.1
(3) Mühlstein, s.1
(4) Die Wörter Sinn – Tat – Kraft entsprechen nicht der griechischen Wortbedeutung. „Logos“ bedeutet: das Sprechen, die mündliche Mitteilung, der Ausdruck, das Wort.
(5) Albert Schweitzer. Helene Bresslau: Die Jahre vor Lambarene, Briefe 1902-1912, C.H. Beck, München, 1992