Am 9. Oktober 1959 wurde Albert Schweitzer zum Ehrenbürger der Stadt Frankfurt ernannt. Die Ehrenbürgerschaft ist die höchste vergebene Auszeichnung für eine Persönlichkeit, die sich in herausragender Weise um das Wohl der Bürger oder das Ansehen der Stadt verdient gemacht hat. In seiner Rede anläßlich der Verleihung der Ehrenbürgerschaft gibt Albert Schweitzer Auskunft, wie er nach Frankfurt kam und welchen besonderen Zauber die Stadt auf ihn ausgeübt hat:
Wie bin ich nach Frankfurt gekommen?
In diesem Raume und in dieser Stunde bin ich von Erinnerungen umflutet. Wie bin ich nach Frankfurt gekommen? Die erste Bekanntschaft mit Frankfurt machte ich, als liebe Freunde von mir nach dem ersten Kriege Straßburg verließen und sich hier niederließen. Dann kam ich regelmäßig nach Frankfurt. Das war meine erste Begegnung mit der Stadt, und sie hat gleich einen besonderen Zauber auf mich ausgeübt. Nicht nur, weil sich hier Bande der Freundschaft fest erhielten, die etwas für mich in meinem Leben bedeuteten, sondern auch, weil es einiges Besondere war, was mich in dieser Stadt heimatlich anmutete – und auch, weil es die Stadt Goethes war.
Dann kam das Merkwürdige: Ich komme aus einem langen Aufenthalt in Afrika zurück, sitze in Königsfeld, arbeite, fühle mich ferne von der Welt – und nun die Nachricht, ich solle den Goethepreis der Stadt Frankfurt erhalten. Ich konnte es zuerst gar nicht fassen und meinte, es müsse sich um einen Irrtum handeln; denn nur dunkel hatte ich von einem Goethepreis gehört und konnte mir gar nicht vorstellen, was das war – und es war doch die Wahrheit. Und dann kam ich hierher und wußte gar nicht, wie das sollte vor sich gehen, und erfuhr nun, dass der erste Goethepreisträger aus irgendeinem Grunde nicht hatte kommen können. Und hier, in dieser Ecke, dann besprachen wir mit Herrn Oberbürgermeister Landmann die Sache. Und da sagte ich: Ja, ich bin hier, erwartet man von mir nun auch, dass ich spreche? Dann sagte Herr Oberbürgermeister: Ja, also, wenn Sie daran halten‚ ja, ja, das können wir schon machen. Da sagte ich: Ja, aber wenn wir jetzt eine Verschwörung machten gegen die, die jetzt kommen, dass jeder gehalten sein muss, sein Verhältts zu Goethe, wo er den Preis erhält, auch auszusprechen? Dann sagten sie alle: so soll’s geschehen. Und damit war’s erledigt.
Was ich dann gedacht habe und ausgesprochen habe, hat der Herr Oberbürgermeister hier wiedergegeben. Ich war kein Goethe-Kenner, aber ich hatte ihn erlebt, und sein Denken und sein Leben fesselten mich. Sein Denken, weil er nicht ein Philosoph war, der mit Definitionen um sich warf und hantierte, war mir ungeheuer sympathisch, weil er sich mit dem Sein, der Wirklichkeit, beschäftigte und auf dieses eingehen wollte in dem Suchen nach dem Lebensweg. Und wie tief er mich beeinflußt hatte, ohne dass ich ein Goethe-Kenner war, das durfte ich dann damals aussprechen.
Gedenken tue ich in dieser Stunde an den lieben Edwin Fischer, der damals hier Bach spielte und der nun nicht mehr seine Kunst ausüben kann.
Nun kehrte ich zurück, und nun hat mir Goethe eine Heimat geschaffen. Mein Vater war 1925 gestorben, das Pfarrhaus in dem Heimatdorfe stand mir nicht mehr zur Verfügung, wo sollte ich hin? Und da war der Goethepreis da und sagte: Bleib in deinem Dorf, erbaue ein Haus für deine Bibliothek und für dich. Und so wurde das Haus gebaut, und Goethe hat mir eine Heimat erhalten in dem Dorfe, in dem ich aufgewachsen war.
Nun fuhr ich wieder hinaus, und da kam eine neue Überraschung: Schon im Herbst ein Brief, ob ich bereit wäre, die Rede bei der Wiederkehr des 1oo. Todestages von Goethe zu halten. Sagte ich mir wieder: Na, die haben doch genug Goethe-Forscher, was soll ich jetzt das tun? Und habe einen Brief geschrieben – ich weiß nicht, ob er erhalten ist -‚ in dem [ich] sagte und beschwor, man solle doch einen richtigen Goethe-Forscher nehmen, denn ich wäre nur ein Goethe-Liebhaber. Aber die Frankfurter blieben zähe. Ich weiß heute noch nicht warum.
Und dann ging ich in meine Bibliothek und sah, ich hatte eine Ausgabe der Werke von Goethe, aber kein Buch über Goethe. Da hab‘ ich gesagt: So, jetzt will ich’s wagen. Und dann von November an habe ich skizziert, gelesen, Skizzen gemacht, und als ich das Boot bestieg zur Heimfahrt, da habe ich mich darangemacht, den ganzen Vortrag ins reine zu schreiben. Der Kapitän erlaubte, dass man mir unter einem Zelt eine Hütte baute auf einem Deck; denn in der Kabine unten hätte ich’s nicht – ich hatte keine Kabine für mich – tun können. Und so saß ich dort und skizzierte an meiner Rede, und das gab der Besatzung des Schiffes einige Verwunderung; denn so einen Menschen hatten sie noch selten auf dem Schiff gehabt, der nur saß und schrieb. Das Schiff hieß »Brazza«, benannt nach einem Afrikaforscher. Und nun hörte ich, dass mein Wesen so einen Eindruck auf die Besatzung gemacht hatte, und die Art, wie sie es aussprach. Auf der »Brazza« kam nämlich das Wort auf: »Après le coiffeur à bord c’est le docteur qui travaille le plus«, das heißt: Die Damen vertreiben sich die Zeit, indem eine die andere beim Coiffeur ablöst; er hat den ganzen Tag zu tun. Und mir gestand man zu, dass ich nach dem Coiffeur à bord am meisten arbeitete.
Als wir in die Gironde einfuhren, war die Rede fertig. Und dann bat ich, dass ich hierherkommen dürfe und die Rede vorlese, ob sie tragbar wäre oder ob man etwas daran ändern sollte. Denn es waren doch deutliche Anspielungen auf die Zeitereignisse, die sich vorbereiteten, darin. Und ich las sie vor, und die Meinung sprach sich aus, ich sollte sie so halten, wie ich sie geredet hatte. So kam ich. Und an einem Märzmorgen ging ich auf und ab und memorierte meine Rede; denn drei Jahre lang hatte ich nicht öffentlich geredet, und ich fragte mich, wie es gehen sollte. Ich stand auf dem Podium in dem herrlichen Theaterbau, der jetzt nicht mehr existiert, und sagte meine Gedanken über Goethe und was er uns bedeutete. Und da knüpfte sich ein neues Band mit Frankfurt.
Und nun hab‘ ich’s immer eingerichtet, dass ich nach Europa kam gerade recht, um an der Feier des Geburtstages Goethes dazusein. Und Sie lassen mich immer mehr spüren, dass ich hier in dieser Stadt beheimatet sein darf, und ich danke Ihnen dafür. Und nun heute haben Sie mir es mir schriftlich gegeben, dass ich zu Ihnen gehöre, und lassen Sie mich sagen, was das für mich bedeutet. Ich fühle mich so geehrt und so erfreut, dass ich’s gar nicht ausdrücken darf und kann.
Tausend Dank!
(Quelle: „Albert Schweitzer. Aus meinem Leben. Selbstdarstellungen und Erinnerungen“ Hrsg. Gerhard Fischer. 1988 Union Verlag Berlin)