Zur „tätigen Freiheit“ erziehen

Von Gottfried Schüz

In „Aus meiner Kindheit- und Jugendzeit“ berichtet Albert Schweitzer rückblickend, wie schwer ihm der Schuleintritt gefallen war. Er bedeutete ihm ein Verlust der „herrlichen Freiheit“, die er in der ländlichen Umgebung Günsbachs als Kleinkind genossen hatte. Demgegenüber wurde dem kleinen Albert eine ganz andere, „innere“ Freiheitserfahrung zuteil, die zu einer lebensbestimmenden Schlüsselerfahrung werden sollte. Er schildert in seiner genannten Autobiografie, wie sein Freund Heinrich ihn zum Vogelschießen mit Steinschleudern animierte und wie er nach anfänglicher Angst, sich dem Freund zu widersetzen, gute Miene zum bösen Spiel machte. Erst das Zeichenläuten der Dorfkirche verhalf seinem schlechten Gewissen zum Durchbruch und ermutigte ihn, die schon angelegte Schleuder wegzuwerfen, die Vögel zu verscheuchen, und sie so vor den Geschossen des Kameraden zu bewahren. Was für ein moralischer Befreiungsschlag, die Freundschaft Heinrichs aufs Spiel zu setzen wegen einiger Vögel, deren es ohnehin viel zu viel auf dem Rebberg zu geben schien.– „Von jenem Tage an“, so schreibt Schweitzer, „habe ich gewagt, mich von der Menschenfurcht zu befreien“.

Das Wagnis „innerer Freiheit“ heute

Die Situation ist bis heute modellhaft für die meisten Kinder und Jugendlichen: Wie viele Untaten gegen Sachen und Personen gehen auf das Konto eben jener Freundessolidarität, das Lebenselixier des Anerkanntseins unter Seinesgleichen, für das sie jederzeit bereit sind, aufkommende Gewissensbisse zu ersticken. Subtiler, aber nicht weniger wirksam sind die Anpassungszwänge in Konsum- und Freizeitverhalten, denen sich junge Menschen so leicht und gerne unterwerfen, weil sie ihnen Akzeptanz und Selbstsicherheit vermitteln. Von einem Handeln aus selbstbestimmter Überzeugung, aus „innerer Freiheit“, kann dort in den meisten Fällen keine Rede sein.

Aber gerade diese innere Freiheit, sich dem zu entziehen, was die Mitwelt einem an Fragwürdigkeiten abnötigen will, ein „Anderssein als die Welt“ zu wagen, ist eine hohe sittliche Leistung; gegen jeden Anpassungsdruck ein „Dennoch“ zu riskieren, tätig in diese Welt hineinzuwirken, in ihr ein anderes, menschlicheres Miteinander möglich zu machen.

Für eine solche „innere Freiheit“ Kinder und Jugendliche zu sensibilisieren, ist eine, wenn nicht die entscheidende Erziehungsaufgabe: Sich eines gedankenlosen Mitläufertums bewusst zu werden, Nutzen und Schaden eigenen Tuns oder Lassens abzuwägen und die eigene Selbstbezogenheit zum Wohle des Anderen zu überwinden, was auf lange Sicht meist auch dem eigenen Wohl dient.

Geschichten, die zu denken geben

Neben dem beschriebenen Kindheitserlebnis Schweitzers finden sich in seinen Selbstzeugnissen noch weitere; man denke an die Begebenheiten mit seinem Hund Phylax, den er mit der Peitsche drangsalierte, oder mit dem Kutschpferd, dessen Kräfte er nicht schonte. Alles Geschichten, die schon für Kinder im Grundschulalter sehr geeignet sind, das Nachdenken über eigenes Handeln und Entscheiden in solchen oder vergleichbaren eigenen Konfliktsituationen anzuregen.

Mit Jugendlichen scheint mir ein anderes Beispiel diskutierenswert: Schweitzer berichtet in „Aus meinem Leben und Denken“ eher beiläufig, wie er anfangs der unter den Theologiestudenten verbreiteten Gewohnheit des Pfeiferauchens verfiel. Als er spürte, davon abhängig zu werden, verkündete der knapp 25-Jährige an Silvester 1899, das Rauchen für immer aufzugeben: weil es ihm, wie er bekannte, „zur Leidenschaft“ geworden war. Er nennt keine gesundheitlichen Gründe. Ihm ging es vor allem darum, sich nicht einer zwanghaften Gewohnheit zu unterwerfen und dadurch seine innere Freiheit einzubüßen.

„Tätige Freiheit“ – Zumutung und Ermutigung

Für den Aufbau einer ethischen Haltung ist es nach Schweitzer mit einem Sich-Lösen von äußeren und inneren Abhängigkeiten oder Zwängen freilich nicht getan. Wahre Ethik ist „tätige Freiheit“ bzw. eine „bewußte Tat der Freiheit“. Sie kommt erst zum Zuge, wenn der von der „Welt“ Befreite diese nicht auf sich beruhen lässt, sondern aus seiner Selbstbezogenheit heraustritt, um sich selbstlos für eine Humanisierung derselben zu betätigen.

Erst auf diesem Wege können junge Menschen zu der Selbstbestimmtheit und Freiheit gelangen, die sie – je nach Lebensphase – mehr oder weniger vehement einfordern. Nur wird ihnen, wenn sie es recht bedenken, klar werden, dass es „ihre Welt“ ist, die im eigenen Entscheiden und Tun neu entsteht, mag sie auch noch so klein sein.

Mit einer Ethik, die mit der Freiheit und Eigenbestimmtheit des Einzelnen ernst macht, ist eine enorme Zumutung, aber auch Ermutigung verbunden. Zumutung, insofern es nicht genügt, nach eingefahrenen Entscheidungsmustern und unreflektierten Gewohnheiten, oder einfach „kalt nach ein für allemal festgelegten Prinzipien“ zu handeln. Es gilt sich immer wieder und vor allem in Konfliktsituationen bewusst zu machen, was jeweils auf dem Spiel steht, d.h. nach Maßgabe der Ehrfurcht gegenüber allen Mitgeschöpfen stets neu um eine wahre Menschlichkeit zu ringen. Ermutigung insoweit, als gerade junge Menschen keine blinde Anpassung an Autoritäten oder vorgegebene Normen abverlangt bekommen, sondern ihnen – ganz im Geiste der Aufklärungsidee, wie sie einmal Immanuel Kant formuliert hat – Mut zugesprochen wird, sich ihres eigenen Verstandes und Denkvermögens zu bedienen: Selbst abwägen zu lernen, was lebensschädigend oder lebensdienlich ist für sie und andere und danach zu handeln.

Daher darf die erzieherische Bemühung nicht auf Disziplinieren und sinnlose Anpassung an vorgegebene „Werte“ gerichtet sein. Sie muss, und das hat Schweitzer vor allem in seinen Schulreden immer wieder betont, von „Vertrauen“ in die schöpferischen Kräfte der Jugend getragen sein. Das schließt natürlich unbedingt mit ein, dass sie Freiräume erhalten für eigenes Tun und Gestalten – zur Einübung gelingenden Lebens.

Hierzu will unsere Stiftung Deutsches Albert-Schweitzer-Zentrum ermutigen. Hierfür wollen wir Projekte im Kraftfeld von Schweitzers Lebenswerk unterstützen.