Zur pädagogischen Bedeutung von Albert Schweitzers Vermächtnis

Von Gottfried Schüz

1. Habe Mut zu eigenem Denken und Tun!

In unserer offenen demokratischen Gesellschaft wird oft beklagt, dass es an für alle verbindlichen Werten fehle. Vor allem die Jugend werde auf dem Supermarkt der Lebensmöglichkeiten weitgehend sich selbst überlassen. Es fehle ihr an der erforderlichen Achtsamkeit für das Allgemeinwohl und an klaren Wertvorgaben. Angesichts des vermeintlichen Werteverlusts bekommen diejenigen Beifall, die wieder lautstark Alltagstugenden wie Disziplin, Gehorsam und Pflichterfüllung einfordern.

In das Lamento über den vermeintlichen Werteverfall hätte Albert Schweitzer nicht eingestimmt. Die Wurzel des Problems liegt für ihn tiefer: „Wir denken nicht mehr …“. – „Mit der preisgegebenen Freiheit des Denkens haben wir … den Glauben an die Wahrheit verloren“.

Die Hauptursache der gesellschaftlich-kulturellen Übel ist Schweitzer zufolge vor allem in der Gedankenlosigkeit zu suchen, mit der wir zunächst und zumeist Lebensstile und Konsumgewohnheiten, Denk- und Handlungsmuster, wie sie uns in der realen Welt offeriert oder von den Medienwelten imaginiert werden, unreflektiert übernehmen.

Nicht ein Mangel an Werten war für ihn zu beklagen, sondern mangelnde Besinnung auf die eigentlichen Grundlagen unseres Menschseins.

Allerdings darf ein solches Nachdenken über den Sinn eigenen und fremden Lebens nicht irgendwelchen Autoritäten oder führenden Persönlichkeiten in Politik, Wirtschaft und Kultur überlassen bleiben. Dieses elementare Denken muss bei jedem Einzelnen einsetzen und kann nicht früh genug einsetzen.

„Der Dschihad beginnt auf dem Schulhof“, so ist ein Artikel des Wiesbadener Kurier vom 28.1.2015 überschrieben. Er berichtet, wie Frankfurter Berufsschüler von radikalen Islamisten angeworben wurden und sich zu Kämpfern des sog. Islamischen Staates in Syrien ausbilden ließen. Wer nicht gelernt hat, sich kritisch mit dem Sinn und Zweck solcher Angebote auseinanderzusetzen, wird leicht willfähriges Opfer von Extremisten und Fanatikern.

Was treibt Menschen und Völker immer wieder neu ins Unglück? Im Wesentlichen die Tatsache, dass sie den schwarz-weiß-gestrickten Weltbildern und Heilsversprechungen von Meinungsmachern und Meinungsführern kritiklos nacheifern. Sind diese doch nur zu verführerisch: Mit ihnen wird die komplexe und widersprüchliche Welt überschaubar, eingeteilt in „gut“ und „böse“, versehen mit klaren Feindbildern, die man für die eigene beklagenswerte Situation verantwortlich machen kann. Zudem ersparen sie einem die Mühsal eines eigenen differenzierten Nachdenkens.

In der Frage, nach welchen ethischen Idealen wir unser Leben ausrichten sollten, konnte für Albert Schweitzer nur ein Weg ins Freie führen: nicht der Blick auf mehr oder weniger verlockenden Heilsangebote, sondern die Besinnung auf uns selbst! Genauer: Zur wahren Humanität gelangen wir erst in der Besinnung auf unser inneres Verhältnis zu dem uns umgebenden Leben.

Dieses Nachdenken setzt bei einer grundlegenden Tatsache des Lebens ein, die niemand leugnen kann: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“.

Wer über diese Tatsache ohne Vorbehalte nachdenkt, kann nicht anders, als nicht nur den eigenen Willen zum Leben bzw. die eigene Lebensbejahung, sondern auch die Lebensbejahung, die sich in dem vielgestaltigen Leben um ihn herum zeigt, mitzuerleben und in gleicher Weise anzuerkennen wie die eigene.

Freilich eine entscheidende Voraussetzung muss ich bei dieser Besinnung erfüllen: Wahrhaftigkeit. Wahrhaftigkeit im Umgang mit mir selbst. Ich muss bereit sein, nüchtern und wahrhaftig, d.h. ohne Selbsttäuschung und Ausflüchte über mein grundlegendes Verhältnis zu anderem, mich umgebenden Leben nachzudenken, besser noch, mich in dieses einzudenken, ja einzufühlen. In dem Moment, wo ich mich von meiner egoistischen Selbstbezogenheit freimache, und in Mitleiden und Mitfreude an anderem Leben teilhabe, erlebe ich geradezu die „Nötigung“, diesem Leben die gleiche „Ehrfurcht“ entgegenzubringen.

Allein schon damit wird deutlich, dass dieses von Albert Schweitzer reklamierte „Denken“ keine reine Kopfangelegenheit ist. Immer wieder betont er, dass in allem das Herz mitzureden hat mit dem Verstand! Fühlen und Erleben fordern unser Nachdenken ebenso heraus wie Denken in Gefühl und Erleben hinabreicht, wenn es elementar und wahrhaftig bleiben will.

In dieser Dimension wird der Fremde, der mir begegnet, nicht mehr wahrgenommen als Muslim, Flüchtling oder Afrikaner. Er ist nicht mehr ‚Abziehbild‘ einer Religion, Nation oder ethnischen Herkunft. Vielmehr sehe ich ihn als einmaliges, unverwechselbares Individuum, als Mitmenschen, in dem ich meine eigenen Lebensbedürfnisse gespiegelt sehe und der meinen uneingeschränkten Respekt verdient.

Nun aber kommt das Radikale in Schweitzers Ethik: Im Gegensatz zur Ethiktradition beschränkt sie sich nicht mehr nur auf das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Sie bezieht alle Lebensformen des Tier- und Pflanzenreiches mit ein. Eine solche Ethik beansprucht wahrhaft universelle Geltung. Ja mehr noch: Sie lässt keinerlei Wertunterschiede zwischen den Lebensformen gelten.

Damit klärt sich auf einfachste Weise zugleich die ethische Grundfrage, über die sich die Menschheit seit Jahrtausenden zerfleischt: Was ist eigentlich „gut“ zu nennen, und was „böse“? Für Schweitzer konnte es nur eine Richtschnur geben: „Als gut gilt …, Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen. Als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten.“

Diese Lebensregel ist so einfach, dass sie jeder verstehen kann. Und sie ist hochaktuell: Denn was „gut“ oder „böse“ ist, entscheidet sich nicht danach, wie jemand aussieht, wo er herkommt, was er glaubt. Das einzig Entscheidende ist, wie er oder sie sich anderem Leben gegenüber verhält, ob er oder sie es fördert oder schädigt.

2. „Gut leben“ bedeutet: „grenzenlose Verantwortung“

Damit ist zwar das Wesentliche der Ehrfurchtsidee gesagt. Aber das ist nur der „halbe Schweitzer“. Denn leider ist das Leben nicht ganz so einfach, wie diese Lebensregel klingt. Wer nämlich danach immer „gut“ handeln will, gerät in heillose Konflikte: Wir kommen ständig in die Lage, dass wir eigenes oder uns anvertrautes Leben nur auf Kosten anderen Lebens erhalten können. Allein unsere tägliche Ernährung verdanken wir dem Opfer ungezählter Pflanzen und Tiere. Oder denken wir nur an unsere stets wachsenden Lebensansprüche wie komfortables Wohnen, motorisierte Fortbewegung und Fernreisen bis hin zu teilweise recht fragwürdigen Freizeitvergnügungen; erst auf den zweiten Blick erkennen wir, welche gigantische Zerstörung von Lebensraum für Tiere, Pflanzen und Menschen in Nah und Fern wir dafür billigend in Kauf nehmen. Eine Vernichtung von Leben, deren Ausmaß selbst Schweitzer nicht kannte.

Nun können wir dies als unabänderliches Naturgesetz achselzuckend hinnehmen und uns darüber weiter keine Gedanken machen. Wir können aber auch eine Schädigung anderen Lebens, wo immer es geht, versuchen zu vermeiden oder wenigstens so gering wie möglich zu halten. Da gibt es genug zu tun. Und wie weit ist das Feld der ungenutzten Möglichkeiten, anderes Leben zu erhalten und zu fördern, ohne den Preis einer unerwünschten Schädigung anderen Lebens! Hier erwächst aus Schweitzers Ehrfurchtsethik unsere entscheidende Verantwortung gegenüber anderem Leben.

3. Konsequenzen für Schule und Erziehung

Neben dem eingangs erwähnten vermeintlichen Werteverlust würde Schweitzer mit einer zweiten verbreiteten Fehleinschätzung aufräumen: Der vermeintlichen „Verantwortungslosigkeit“ der Jugend. Kinder und Jugendliche handeln sehr wohl verantwortungsbewusst. Das Problem ist, dass sie – und nicht anders als wir Erwachsenen – die Grenze für das, wofür sie glauben verantwortlich oder nicht mehr verantwortlich zu sein, unterschiedlich, und oft zu eng, ziehen; geboren aus Gedankenlosigkeit, Bequemlichkeit oder weil es die anderen auch so machen.

Von Schweitzer kennen wir die Geschichte, wie er einen Eingeborenen aufforderte, ihm zu helfen einen anderen Schwarzen, der in den Ogowe gefallen war, vor dem Ertrinken zu retten. Er bekam zur Antwort: „Dem kann ich nicht helfen, der gehört nicht zu meinem Stamm.“

So auch viele Jugendliche heute: dem, der in der eigenen Clique das Sagen hat, werden sie alles zu Gefallen tun und ihm gegenüber keine Verantwortung schuldig bleiben. Hier wird „Ehrfurcht pur“ wirksam. Aber kommt einer neu in die Klasse oder Gruppe, heißt es: Der kann uns gestohlen bleiben, der gehört nicht zu uns. Auf politischer Ebene wird zur Zeit genau dieser Konflikt ausgetragen. Denken wir an die „Pegida“-Demos, die Stimmung machen gegen eine angebliche „Islamisierung“ des Abendlandes, denken wir an den zum Teil höchst fragwürdigen Umgang mit Flüchtlingen und Asylbewerbern aus Kriegsgebieten.

Ethisch Denken und Handeln mit Schweitzer heißt, den Umkreis des Lebens, für das wir uns verantwortlich fühlen, immer weiter zu ziehen, bis wir die Erfahrung der Verbundenheit mit allem Leben machen, dass letztlich kein Leben aus unserer Verantwortung auszuschließen ist: Damit aber ist der Einzelne mit einer Verantwortung konfrontiert, die an keiner Grenze halt macht. „Ethik ist“, so Schweitzer, die „ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt.“

Daher ist es für Schule und Erziehung besonders wichtig, dass sie Kinder und Jugendliche auch Verantwortung übernehmen lassen, für ihr eigenes Tun und für den Anderen; dass sie Initiativen nicht ersticken. Wie oft gebieten Erwachsene dem kindlichen Streben schroff Einhalt mit den Worten: Das geht Dich nichts oder noch nichts an.

Wie oft werden Kinder und Jugendliche unnötig „zurückgepfiffen“, weil sie ihrer Neugierde oder Gewissensstimme folgend Grenzen des Üblichen und Schicklichen überschreiten! Ein schlichtes Beispiel: Da zieht ein Kind beim Waldspaziergang eine triefende, mit Verpackungsmüll gefüllte Plastiktüte aus dem Unterholz mit den Worten: „Das gehört doch in den gelben Sack“; Kommentar der Eltern: „Lass‘ das liegen, Du machst Dich nur ganz schmutzig.“

Erziehen im Schweitzerschen Sinne darf nicht in erster Linie bedeuten, Ermahnungen, Ge- und Verbote auszusprechen und durchzusetzen, sondern: dem Kind oder Jugendlichen Spielräume zu eröffnen, in denen sie lernen selbstverantwortlich zu entscheiden, wie weit sie mit ihrer Selbstentfaltung oder ihrer Hingabe an anderes Leben gehen; freilich unter Wahrung der Verantwortung des Erziehers.

Solcher Pädagogik geht es ums Ganze: sie bildet den Grund und Ausblick zu einer „grenzenlosen“ Verantwortung, die sich der Leitidee der Ehrfurcht vor dem Leben verpflichtet weiß.

Genau dies hatte der junge Albert Schweitzer verspürt, als er aus Dankbarkeit für all das Gute, was er empfangen hatte, seine Doppelkarriere als Theologieprofessor und als Konzertorganist aufgab, um sein Leben einem „rein menschlichen Dienen“ als Arzt bei den Ärmsten Afrikas zu widmen.

Und so sollte sich auch jeder junge Mensch heute fragen, ob sich sein Lebenssinn darin erschöpft, eigene Bedürfnisse und Ansprüche zu kultivieren, oder, wie Schweitzer einmal in einer Schulrede sagte, ob er „eine Aufgabe zu erfüllen hat in der Welt“ – eine Aufgabe, die nicht an der Grenze der eigenen Haustür endet.

Die Aufgaben, die vor uns liegen, sind gewaltig. Allerorten werden elementare Lebensrechte der menschlichen und nichtmenschlichen Mitwelt im Kleinen wie im Großen missachtet. Ob die Energiewende rechtzeitig gelingt, ob wir es schaffen, die Kluft zwischen Arm und Reich zu überwinden, ob wir zu einer global vernetzten Nachhaltigkeit in der Wirtschaft finden, ob die Völker und Religionen zu einer friedlichen Koexistenz gelangen, all dies sind inzwischen Überlebensfragen der Menschheit.

Angesichts dieser vielen Probleme muss keiner ein zweiter Albert Schweitzer werden. Es gibt unendlich viele andere Möglichkeiten, sich hilfsbedürftigem Leben helfend und unterstützend zuzuwenden oder eine unnötige Schädigung anderen oder des eigenen Lebens zu vermeiden. Dabei sind gerade auch die vielen kleinen, noch so unscheinbaren Schritte wesentlich.

Für Schweitzer geht es gerade nicht darum zu warten, bis es die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft schon richten werden. Nur wenn jeder Einzelne sich die Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben zu eigen macht und in seinem Umkreis danach zu handeln sucht, kann unsere Welt menschlicher und lebenswerter für alle Geschöpfe werden.

Dies ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, gehalten am 5.2.2015 am Albert-Schweitzer-Gymnasium Dillingen/Saar