Von Dr. Gottfried Schüz
Als Albert Schweitzer 1913 nach Abschluss seines Medizinstudiums zusammen mit seiner Frau Helene nach Afrika aufbrach, um inmitten des äquatorialafrikanischen Urwaldes in Lambarene (Gabun) ein Spital aufzubauen, war er bereits ein promovierter Philosoph und habilitierter Theologe, zudem ein renommierter Bachinterpret und gefragter Orgelexperte. Er gab eine aussichtsreiche Doppelkarriere als Hochschullehrer und Konzertorganist auf, um sein weiteres Leben in der bewussten Nachfolge Jesu einem „rein menschlichen Dienen“ zu widmen.
Während der äußerst mühevollen medizinischen Versorgung der Ärmsten der Armen mit primitiven Mitteln und des überaus kräftezehrenden Spitalaufbaus fernab von Europa trieb Schweitzer nicht weniger die besorgniserregende Entwicklung von Kultur und Zivilisation der Ersten Welt um. Während er tagsüber das große Leid der Eingeborenen zu lindern suchte, saß er „in großer Sorge“ des Nachts am „Krankenbett der Menschheit“.
Schon zu seinen Studienzeiten sah Schweitzer in allen Bereichen den geistigen Niedergang der Kultur und zunehmende Unmenschlichkeit um sich greifen. Der Erste Weltkrieg war für ihn die notwendige Folge des ethisch-geistigen Verfalls der Moderne. Obwohl er als Arzt in der Abgeschiedenheit des Urwaldes mit ganz anderen Problemen zu kämpfen hatte, konnte er sich mit der europäischen Katastrophe nicht abfinden. Ihn ließ die Frage nicht los, dass es eine neue Ethik geben müsse, die die Menschheit aus ihrem geistigen Elend retten könne. Eine Ethik, die über alle Grenzen der Religionen, Nationen und Ethnien hinweg universelle Gültigkeit hat und eine humane Gesinnung der Völker begründet.
Man schrieb inzwischen das Jahr 1915, als Schweitzers rastlose Suche nach einem neuen ethischen Fundament schließlich Erfolg hatte: Auf einer mehrtägigen Bootsfahrt auf dem Ogowe zu einem Kranken kam ihm die Leitidee der ?Ehrfurcht vor dem Leben? in den Sinn. Damit war der entscheidende Schlüssel für das „eiserne Tor“ entdeckt, das ihm den Zugang zu einer universell gültigen Menschheitsethik eröffnete. Ein Schlüsselwort, das sich mit einer „langen Gedankenkette“ verbindet, wie sie Schweitzer in der Folgezeit im Rahmen einer umfassenden Kulturphilosophie zu Papier brachte. Die darin begründete Ehrfurchtsethik sollte nicht dem akademisch gebildeten Fachphilosophen vorbehalten sein. Sie wendet sich an jeden Menschen und erhebt nur eine Bedingung: die Bereitschaft, über sich und sein Verhältnis zur Mitwelt „wahrhaftig“, d. h. ohne Selbstbetrug und Ausflüchte, nachzudenken. Auf diesem Wege könne, so Schweitzer, niemand die Grundtatsache leugnen: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“. In der Konsequenz dieses Leitgedankens werden alle Versuche, „zwischen wertvollerem und weniger wertvollem, höherem und niederem Leben“ zu unterscheiden, hinfällig: „Wer von uns weiß, welche Bedeutung das andere Lebewesen an sich und im Weltganzen hat? Die Konsequenz dieser Unterscheidung ist dann die Ansicht, dass es wertloses Leben gäbe, dessen Vernichtung erlaubt sei. Je nach den Umständen werden dann unter wertlosem Leben Insekten oder primitive Völker verstanden.“ Ehrfurcht vor dem Leben bedeutet demnach, alles Leben, Mitmenschen wie auch die vielfältigen Lebensformen der Tier- und Pflanzenwelt, als grundsätzlich gleich wertvoll anzuerkennen. Auf diesem Wege gelangen wir in ein „geistiges Verhältnis zum Universum“.
Mit der Ethik der Ehrfurcht vor allem Leben fallen die Mauern, mit denen wir uns gerne absichern gegen das, wofür wir uns nicht mehr verantwortlich fühlen. Diese Ethik wirft uns in eine „erschreckend unbegrenzte Verantwortung“. Sie reißt uns aus der Gedankenlosigkeit eines unbekümmerten Dahinlebens heraus. Sie lässt uns den Konflikt erleben, dass wir zur Lebensführung stets auch anderes Leben schädigen oder vernichten. Immer neu fordert uns die Ehrfurchtsgesinnung heraus zu prüfen, inwieweit für solche Schädigung oder Vernichtung eine zwingende Notwendigkeit besteht. Dabei öffnet sie uns die Augen für zahllose eigene Gelegenheiten, auf unnötiges Schädigen oder gar Töten anderen Lebens zu verzichten. Darüber hinaus ist sie Ansporn, das uns Mögliche zu tun, um anderes Leben zu erhalten und zu fördern.
Nur wenn die Ehrfurcht vor dem Leben an der Läuterung und Gesinnung der vielen Einzelnen „arbeitet“, besteht – so lautet Schweitzers Botschaft – Aussicht auf eine lebenswerte Zukunft für Menschheit und Natur.