Von Einhard Weber
Am 4. September 1965, also vor 50 Jahren starb Albert Schweitzer in Lambarene/Gabun. Mit ihm verlor die Welt eine der herausragenden Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts – einer Epoche, die ansonsten durch den „Niedergang der Kultur“ geprägt war. Albert Schweitzer war ein vielseitig begabter Mensch und leistete sowohl als Theologe als auch als Philosoph, Organist, Orgelbauexperte, Schriftsteller, Baumeister und Urwald-Doktor Außerordentliches.
Obwohl ihm als Organist und Hochschullehrer große Karrieren offen standen, verließ er mit seiner Frau Helene Europa, um im fernen Afrika, im heutigen Gabun, während der französischen Kolonialzeit „in der Nachfolge Jesu“ sein später weltberühmtes Urwald-Krankendorf aufzubauen.
Trotz des für Europäer extrem anstrengenden, ungesunden Klimas fand er neben der aufreibenden Bautätigkeit und des Klinikalltags noch Zeit, Bücher und Zehntausende von Briefen zu schreiben. Hauptwerk Albert Schweitzers war seine Kulturphilosophie in mehreren Bänden, deren Basis die „Ehrfurcht vor dem Leben“ bildet, deren Grundlage wiederum der unwiderlegbare Satz „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ ist.
Damit schuf er bereits vor fast einem Jahrhundert eine „säkulare Ethik“, die der Dalai Lama mit Franz Alt in seinem aktuellen Spiegel-Bestseller „Ethik ist wichtiger als Religion“ so dringend fordert.
Die Klinik in Gabun war für Albert Schweitzer das „Symbol“ seiner humanitären Philosophie. Dass diese Klinik ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod noch segensreich wirkt, hat er nach eigenem Bekunden für sehr unwahrscheinlich gehalten. Aber eine große Zahl von hochengagierten Menschen hat, trotz nicht kleiner werdender Probleme, dieses kleine Wunder vollbracht.
Da diese Klinik für das Ansehen des Staates Gabun mit seinen nur 1,8 Millionen Einwohnern und seinem Gesundheitswesen von großer Bedeutung ist, besteht – trotz des Ölpreiseinbruchs – die Hoffnung, dass seine führenden Politiker sich ihrer Verantwortung bewusst sind und die Blamage der Subventionskürzung, die um die Welt gehen wird, verhindern.
Wie die letzten Tage des neunzigjährigen „Urwald-Doktors“ und Friedensnobelpreisträgers, nach einem ungewöhnlich arbeitsreichen Leben, verliefen, veranschaulichen einige Passagen aus den Erinnerungen seines medizinischen Nachfolgers Dr. Walter Munz:
Vor Jahren schon hatte er (Albert Schweitzer) das einfache Steinkreuz für sein Grab vorbereitet und seinen Sarg zimmern lassen. Er hatte mir gezeigt, wo beide gelagert waren. Ruhig sah er seinem Lebensende entgegen und war jeden Tag heiter.
Fünf Tage vor seinem Tod kam Schweitzer nicht mehr ins Esszimmer und nicht mehr in die große Pharmacie. Er war in seinem Bett eingeschlafen. Alle fühlten – Afrikaner und Europäer – dass sein Sterben nahe war. Leute setzten sich schweigend auf den Boden vor seinem Zimmer. Andere folgten und setzten sich auf den Hof vor dem Doktorhaus, unter die Mangobäume und die hohen Ölpalmen. Die ersten waren Leute aus dem Spital, vom Städtchen Lambarene und aus den nächstgelegenem Dörfern. An den folgenden Tagen kamen sie aus den fernen Siedlungen, flussaufwärts und flussabwärts, von den großen Seen und von den Straßen Richtung Libreville im Norden und Fougamou im Süden. Es entstand eine riesige Sitzwache. Jeder bezeugte Sorge und Traurigkeit. Alle waren voll Rücksicht zueinander. Das Kommen und Gehen geschah fast geräuschlos. Für Schwestern und Ärzte, die wir unsere Kranken weiter zu pflegen hatten, konnte es nichts Ermutigenderes und Würdigeres geben als diese schweigende Gemeinde, die vor dem Doktorhaus saß.
Nach drei Tagen erwache Schweitzer nochmals und verlangte, das Spital zu sehen. Er war schwach geworden. Als sei es gestern gewesen, erinnere ich mich, wie Fräulein Ali und ich ihn auf diesem Spaziergang begleiteten. Arm in Arm gingen wir langsam die Treppenstufen hinunter auf den Hof. Die Leute rückten still auseinander, um uns Platz zu geben. Wir gingen zwischen der damaligen Küche und dem Esshaus durch, dann am Haus des Ziegenhirten Madouma Philémon vorbei bis gegen die Schreinerwerkstätte.
[…]
Wir gingen weiter und hielten bald an einer Wegstelle, von der aus wir fast das ganze Spital am Ogowe-Ufer überblicken konnten. Der Doktor schaute lange. Als zöge er eine Bilanz über alles hier Erlebte – über Leid und Freude – sagte er dann in seinem gemütlichen Elsässerdialekt: „Awer es hett doch e Charme, des Spitol. Finde ihr nit oi?“ (Aber es hat doch einen Charme, dieses Spital. Findet ihr nicht auch?) Dieses versöhnliche Wort ist in meiner Erinnerung das letzte, was Schweitzer über sein Spital sagte.
Bedächtig kehrten wir dann um und gingen zurück zu seinem Zimmer. Er schlief bald wieder ein und erwachte nun nicht mehr. Es wurde eingerichtet, dass jeder der es wünschte, zu seinem Bett kommen durfte, um Abschied zu nehmen. Nach zwei weiteren Tagen stand sein Herz still, in der Nacht vom 4.auf den fünften September 1965.
Am Morgen um sechs Uhr wurden die Spitalglocken geläutet – der Gabun und die ganze Welt vernahmen den Tod von Albert Schweitzer. Am Nachmittag des 5. September wurde der Doktor auf dem kleinen Friedhof neben seinem Haus begraben, an der Seite seiner Frau Helene.
[…]
Während der folgenden Monate kamen jeden Samstag und Sonntag Trauergruppen aus den Dörfern von nah und fern – von allen Stämmen. Sie kamen zum Singen und Beten und für die ihnen so wichtigen Totentänze. Ihr Tam-Tam bezeugte Liebe, Trauer und Dank.
Der hier zitierte Text stammt aus:
Jo und Walter Munz, Albert Schweitzers Lambarene – Zeitzeugen berichten. Zum 100jährigen Jubiläum des Urwaldspitals 1913-2013, elfundzehn Verlag 2013, S. 143-146.