Weltprobleme? Man kann doch eh nichts ändern!

Von Martin Kowarsch

Voll motiviert, Schweitzers eingängige Ehrfurchtsethik in die Tat umzusetzen, stößt man schnell auf Hürden und Fragen: Verlangt Schweitzers Ethik auch Verantwortung mit Blick auf globale, für uns oft ferne Probleme wie Armut, Klimawandel, Wasserknappheit usw.? Da wir durch unseren Lebensstil, unser politisches (Wahl-)Verhalten und sonstige veränderbare Tätigkeiten (oder Unterlassungen) ohne Zweifel so oder so starken Einfluss nehmen auf diese Weltprobleme, haben wir ganz offensichtlich auch eine moralische Verantwortung dafür. Doch was soll das dann genauer heißen? Was können wir denn als Einzelne überhaupt ändern? Am Beispiel des Klimawandels soll nachfolgend skizziert werden, welche äußeren und inneren Schwierigkeiten sich oft auftun, wenn man die Ehrfurcht vor dem Leben in dieser komplexen, globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts tatsächlich leben will, und welche Antworten Schweitzer sowie die aktuelle Wissenschaft darauf anbieten.

Ziemlich sicher ist inzwischen, dass die derzeitige, ungewöhnlich schnelle globale Erwärmung hauptsächlich durch die massiven menschengemachten CO2-Emissionen (hauptsächlich aus der Verbrennung von Kohle, Öl, Gas sowie durch Entwaldungen) verursacht ist. Die globale Mitteltemperatur kann bis 2100 um 4 bis 6° C im Vergleich zu 1850 ansteigen. Vor allem aus der Sicht vieler Entwicklungsländer ist dies beunruhigend. Denn die Klimaänderung bringt eine Reihe von Risiken mit sich, die zwar nicht ausschließlich, aber insbesondere ärmere Länder betreffen. Kleine Inselstaaten und die oft dicht besiedelten Küstenregionen fürchten um ihre Existenz, weil die erwärmungsbedingte Ausdehnung des Meeres sowie das Abschmelzen bestimmter Eismassen wohl zu einem deutlichen Meeresspiegelanstieg führen wird. Die durch die Klimaerwärmung vermutlich zunehmenden Unwetter, Dürren und Überschwemmungen betreffen ebenso wie der Meeresspiegelanstieg geografisch zumeist die ärmeren Regionen dieser Erde, in denen auch ohne Klimawandel schon Nahrungsmittel- und Wassermangel vorherrscht. Hinzu kommt, dass ärmere Staaten oft weitaus weniger Möglichkeiten haben, sich an die Klimafolgen anzupassen. Der Klimawandel droht das weltweite Armuts- und Migrationsproblem also noch zu vergrößern.

Eine weitere Gefahr birgt ein ungebremster Klimawandel bezüglich der Betätigung von so genannten Kippschaltern im Erdsystem. Auch wenn es hierbei noch erhebliche Unsicherheiten gibt, befürchtet man, dass das komplexe Erdsystem auf die Erderwärmung mit sprunghaften und möglicherweise irreversiblen Änderungen reagiert, so als ob man einen Kippschalter umlegen würde. Ein Beispiel ist das Abschmelzen des Grönlandeises ab ungefähr 2 bis 4° C globaler Erwärmung über vorindustriellem Niveau, was langfristig bis zu sieben (!) Meter Meeresspiegelanstieg bedeuten könnte. Das Austrocknen von Teilen des Amazonasgebietes ab ca. 4° C globaler Erwärmung wiederum kann den dortigen Regenwald von einem CO2-Speicher in eine große CO2-Quelle verwandeln. Auch das Auftauen der Permafrostböden würde große Mengen an Treibhausgasen (Methan) in kurzer Zeit freisetzen. Eine starke weitere Klimaerwärmung wäre dann wohl kaum mehr aufzuhalten.

Die Zeit drängt massiv: Sehr bald muss das globale Energiesystem von Kohle, Öl und Gas (davon gibt es noch reichlich!) radikal entkoppelt werden, wenn es für effektiven Klimaschutz (z.B. eine Beschränkung der Erwärmung auf maximal 2° C im globalen Schnitt) nicht zu spät sein soll. Jedoch ist dies nicht so einfach, schließlich waren in der Vergangenheit Wirtschaftswachstum und CO2-Emissionsanstieg quasi eins zu eins gekoppelt. Insbesondere Entwicklungsländer sind momentan noch stark auf ein breitenwirksames Wirtschaftswachstum zur Armutsüberwindung angewiesen. Durch das globale Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum wird zudem der Energiebedarf weiter drastisch ansteigen. Mit bestimmten Instrumenten (vor allem einem globalen Emissionshandel, breitem Energiemix inklusive „CCS“ und Biomasse, sowie Waldschutz) ist dieses angebliche Dilemma zwischen „Klimaschutz“ und „Wirtschaftsschutz“ jedoch lösbar: Ehrgeiziger Klimaschutz ist technologisch und ökonomisch machbar und kostet nicht sehr viel, wie immer mehr Studien zeigen – wenn es denn ein entsprechendes internationales Abkommen gibt, was wiederum von uns allen abhängt, nicht nur von den Politiker/-innen.

Man sieht hieran schon die erste große Schwierigkeit, wenn man die Ehrfurcht vor dem Leben leben will: die komplexe Welt, die wir uns geschaffen haben, verlangt zugleich, dass wir uns viel informieren über diese komplexen Zusammenhänge, um sinnvoll tätig werden zu können. Einfache Lösungen gibt es für fast kein großes Problem mehr. Dies gilt nicht nur bei unserem Einsatz für ein absolut notwendiges internationales politisches Abkommen zum Klimaschutz, sondern auch für unseren privaten Lebensstil: Durch Flugreisen, unseren hohen Fleischkonsum, ferner Internetnutzung oder Energieverschwendung im Haushalt tragen wir stark zum Klimawandel bei. Doch es gibt viele Fälle, wo es ziemlich unklar ist, was man einkaufen oder wie man sich genauer verhalten soll, um die natürliche Mitwelt möglichst zu schonen.

Noch schwieriger als die große Herausforderung der Informiertheit sind wohl die inneren Widerstände. Wie viele waren doch in der Jugend noch eifrige Kämpfer/-innen für mehr Gerechtigkeit in der Welt – und resignierten später. Der Schmerz über die übergroßen Weltprobleme oder den ausbleibenden Erfolg unserer aufrichtigen Bemühungen, oder aber die Bequemlichkeit (Angst vor Veränderung) und Überfordertheit angesichts der Abstraktheit dieser Weltprobleme lassen uns oft resignieren. Resignation kann sehr versteckt sein und viele Gesichter haben: Zum Beispiel direkte Verdrängung, Abstumpfung, oft nach einer Phase des wütenden Drauflosrennens. Oder Rationalisierungen: Wir reden uns einfach irgendetwas ein, um den oben genannten Schmerz oder das schlechte Gewissen nicht mehr aushalten zu müssen: „Man (ich) kann doch eh nichts ändern“, „die Welt ist nun einmal schlecht“, „der Mensch hat es nicht anders verdient“, „die Klimaforscher lügen, wollen uns doch nur Angst machen“, „die Technik wird’s schon richten“, etc. Solcher Zynismus, Fortschrittsglaube, Klimaskepsis oder aber das Gefühl, moralisch schon genug getan zu haben, wenn man um den schrecklichen Zustand der (Um-)Welt weiß oder eine Schweitzertagung besucht hat – das alles können subtile Formen der Resignation sein.

Schweitzers Antwort hierauf ist unscheinbar, aber gewaltig: Wir müssen durch solche Resignation, also durch diesen Schmerz, dass die Welt so ist wie sie ist, hindurchgehen, ihn aushalten, verzeihen, um davon „frei zu werden“ (womit weder Rückzug noch Verdrängung gemeint sind, sondern vielmehr eine offene Konfrontation damit), wenn wir zu einer ehrlicheren Ethik gelangen wollen. In anderen Worten: Schweitzer verlangt von uns eine schlichte, aber radikale Offenheit: ein liebendes Erleiden der Verletzungen, die uns die Welt zugefügt hat – um diese Welt dann aktiv, aber in größerer innerer Freiheit und aus wirklicher Liebe nachhaltig verändern zu können. Eine solche Offenheit ist im übrigen auch die Grundlage fast jeder Form von Psychotherapie oder Spiritualität. „Jemanden gut leiden können“ bedeutet schließlich: lieben können.

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel ist die Zusammenfassung des Vortrags, den Martin Kowarsch auf unserer Tagung „Ehrfurcht vor dem Leben leben“ hielt. Die Schaubilder, die seinen Vortrag illustrierten finden Sie unter: www.akademie-hofgeismar.de in der Rubrik „Publikationen“.

Lesetipp des Autors: Ottmar Edenhofer, Hermann Lotze-Campen, Johannes Wallacher und Michael Reder: Global, aber gerecht. Klimawandel bekämpfen, Entwicklung ermöglichen, München: Beck 2010.