Von Einhard Weber
Weltgewissen und Weltgesinnung – Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben ist aktueller denn je
„Auf die Füße kommt unsere Welt erst wieder, wenn sie sich beibringen lässt, dass ihr Heil nicht in Maßnahmen, sondern in neuen Gesinnungen besteht.“ – „Öffentliches Wirken, in dem nicht bis zum Äußersten gehende Anstrengungen der Humanität ist, ruiniert die Gesinnung.“ Diese Gedanken formulierte Albert Schweitzer in seiner viel gelesenen Kulturphilosophie vor fast einem Jahrhundert. Sie wurden gehört, vor allem auch deshalb, weil Schweitzer seine akademischen und künstlerischen Karrieren aufgab und in das ungesunde Klima Äquatorialafrikas ging, um dort zusammen mit seiner Frau Helene in größter Anstrengung und mit eigenen Mitteln das Lambarene-Spital aufzubauen. Bei all dem führte er selbst ein sehr einfaches Leben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war er so nicht nur einer der berühmtesten Männer der Welt. Mehr noch, viele Menschen empfanden Schweitzer als Weltgewissen. Aber schon zehn Jahre nach seinem Tod schrieb Erich Fromm: „In vielen Kreisen gerät Albert Schweitzer gegenwärtig mehr und mehr in Vergessenheit, er wird auch zunehmend verleumdet, und seine Gedanken werden entstellt. So wirft man ihm vor, er sei ein „Reaktionär“, ein „Kolonialist“ gewesen, er habe die Afrikaner verachtet. Was könnte absurder sein – absurd selbst dann, wenn man seine patriarchale Haltung in Betracht zieht, in der er Sohn seiner Zeit war?“
Nebenbei bemerkt, ich möchte den sehen, der mit eigenen Mitteln eine Klinik unterhält, in der er zeitweise bis zu 1.000 Menschen ernähren muss und nicht autoritär führt. Ich kann mich an erheblich grundlos autoritärere Klinikchefs erinnern.
Warum damals und auch heute Menschen Schweitzer distanziert gegenüber stehen, hat Fromm u.a. so begründet, „dass Schweitzers Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben eine zu große Herausforderung darstellt und den Widerstand und Zorn einer Gesellschaft heraufbeschwört“. Hinzu kommt, dass seine Lehre eine Änderung des Lebensstils und der Gesinnung fordert, in einer Welt, die in Konsum, Egoismus und intoleranter Aggressivität zu versinken droht.
Angesichts des grassierenden Terrors inmitten Europas gewinnt diese Ethik eine besondere Brisanz. Sich in dieser Situation in politisch-militärischen Gegenmaßnahmen zu überschlagen oder sich von irrationaler Angst lähmen zu lassen, wären sicher die falschen Alternativen.
Der Dalai Lama fordert eine „säkulare Ethik“, weil das Gewaltpotential der Religionen für Fundamentalisten zu groß ist. Diese Ethik existiert bereits seit einem Jahrhundert und sollte zeitgemäß weiterentwickelt und in Elternhäuser, Schulen und Universitäten hineingetragen werden, damit längerfristig neue Gesinnungen entstehen können.
Gerade in Zeiten einer emotional aufgeheizten öffentlichen Diskussion, wie sie etwa um die Asylfrage aktuell geführt wird, die unsere Gesellschaft geradezu zu spalten droht, ist mehr denn je die „Kraft der Vernunft“ gefordert. An der Vernunft festzuhalten und sich von noch so erschreckenden Krisenszenarien nicht irre machen zu lassen, war stets Albert Schweitzers Credo. Er rief allen Pessimisten und Fatalisten dieser für unrettbar gehaltenen Welt sein „Dennoch“ entgegen: Es liegt an jedem Einzelnen von uns, seinen noch so kleinen Beitrag zu leisten, dass unsere Welt menschlicher werde.
Jeder kann gerade in unserer Zeit sein Lambarene haben, z.B. indem er sich bei der Integration der Asylsuchenden einbringt, sich beim Klimaschutz oder gegen die barbarische Massentierhaltung engagiert, kann „Mensch für Menschen“ sein.
Während der zwei Jubiläumsjahre haben wir über Benefiz- und Gedenkkonzerte, Symposien, Vorträge, Wanderausstellungen und Schriften tausende Menschen erreicht. Sicher nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber eine Saat, von der wir glauben, dass sie aufgeht; dass sie dazu beitragen kann, in der Mitte unserer Gesellschaft einen Gesinnungswandel herbeizuführen, der sich dem Geist der Ehrfurcht vor dem Leben verpflichtet weiß.