Was haben Albert Schweitzer und die ‚Freihandelslüge‘ miteinander zu tun?

Von Hans-Georg Wittig

Mit Recht ist für Albert Schweitzer die Wahrhaftigkeit Grundlage seiner Ethik – ebenso kämpfte Kant gegen die Lüge, vor allem die Selbstbelügung. Selbst Verbrechen sind ja oft mit einem erstaunlich geringen Unrechtsbewusstsein verbunden. In den Worten Eugen Roths:

„Ein Mensch, der spürt, wenn auch verschwommen, – er müsse sich, genau genommen, – im Grunde seines Herzens schämen, – zieht vor, es nicht genau zu nehmen.“

Dieser Mangel an Wahrhaftigkeit, an sensibler Empathie und wacher Aufmerksamkeit droht tödlich zu werden in einer Gesellschaft, die einerseits zu ihrer Fortexistenz auf ein klares und ungeschöntes Bewusstsein der Spätfolgen der eigenen Praxis angewiesen ist, andererseits so viele Ablenkungen anpreist wie unsere, so viele Chancen zur Flucht vor dem, worauf es wirklich ankommt. Das zeigt ein Blick auf die politischen Konsequenzen aus Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben:

Selbstverständlich können und sollen möglichst viele Einzelne und Gruppen diese Ethik in ihrer jeweiligen Umgebung praktizieren, aber Schweitzer hat mit seinem Kampf gegen Atomrüstung gezeigt, dass es darüber hinaus auf die Gestaltung der Weltpolitik ankommt, heute und in Zukunft also auf eine nachhaltige, weltweit lebensdienliche Entwicklung (sustainable development), auf die Förderung von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.

Zur Zeit jedoch bereiten EU und USA einen gigantischen Schritt in die genau entgegengesetzte Richtung der Freisetzung kapitalistischer Machtinteressen vor, nämlich mit dem verharmlosend sogenannten „Freihandelsabkommen“ TTIP (auch CETA und TiSA). Worum es geht („Investorenschutz“ contra Verbraucherrechte, Aushebelung rechtsstaatlicher und demokratischer Grundstrukturen durch private Schiedsgerichte usw.), das zeigen im Detail Bücher wie Franz Kotteders „Der große Ausverkauf“ oder Thilo Bodes „Die Freihandelslüge“ (beide 2015). Bode (früher Greenpeace, jetzt Foodwatch) fragt sich ziemlich fassungslos, „warum sich Volksvertreter derart entmachten lassen, warum sie bereit sind, zugunsten bestenfalls winziger wirtschaftlicher Vorteile gravierende Risiken für die Demokratie in Kauf zu nehmen“ (S. 10). Und Heribert Prantl von der „Süddeutschen Zeitung“ spricht mittlerweile von einem „heimlichen Staatsstreich“. Im Grunde geht es um noch viel mehr: die Menschlichkeit des Menschen. Aus der Sicht eines ausschließlich kurzfristig profitorientierten Globalkapitalismus ist es konsequent, jede moralische Rücksichtnahme z. B. auf Gesundheit oder Gerechtigkeit als „nichttarifäres Handelshemmnis“ zu betrachten, und derlei systemwidrige „Handelshemmnisse“ sollen durch TTIP möglichst weitgehend ausgeschaltet werden.

Jesus sagte die Wahrheit, als er mahnte, man könne nicht zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon. Und Papst Franziskus urteilt in seiner Enzyklika „Evangelii Gaudium“ (2013) über den heute dominanten Globalkapitalismus: „Diese Wirtschaft tötet.“ (Absatz 53) Wenn wir jetzt nicht aufwachen und aktiv werden, wird das Urteil unserer Nachkommen hart sein.