Musiker, Orgelexperte und Wiederentdecker Bachs
„Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich freue, Sie Bach hören zu lassen in der vertieften Interpretation, zu der ich in der Einsamkeit Afrikas gelangt bin.“
Von Kind an erhielt Schweitzer Klavier- und Orgelunterricht. Schon mit neun vertrat er den Organisten in seiner Günsbacher Heimatkirche. Nach Unterricht bei dem Pariser Orgelvirtuosen Charles-Marie Widor entwickelte sich Schweitzer zu einem der großen Organisten und Bachinterpreten seiner Zeit. Schweitzer widmete dem Werk Johann Sebastian Bachs umfangreiche Bücher. Er entdeckte Bach als „Dichter und Maler in Musik“ und sieht bei ihm „das Gefühlsmäßige wie das Bildliche … mit größtmöglicher Lebendigkeit und Deutlichkeit“ vertont. Neben dem Orgelspiel beschäftigte sich Schweitzer eingehend mit dem Orgelbau. Er war ein europaweit gefragter Experte für die Renovierung alter und den Bau neuer Orgeln. Mit zahlreichen Orgelkonzerten in ganz Europa finanzierte er zu einem wesentlichen Teil den Aufbau seines Lambarene-Spitals.
„Zur Pflege des Orgelspiels stand mir das herrliche, eigens für die Tropen gebaute Klavier mit Orgelpedal zur Verfügung, das die Pariser Bachgesellschaft mir als ihrem langjährigen Organisten geschenkt hatte. Anfangs fehlte es mir aber an Mut zum Üben. Ich hatte mich mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass das Wirken in Afrika das Ende meiner Künstlerlaufbahn bedeute, und glaubte, dass mir der Verzicht leichter würde, wenn ich meine Finger und Füße einrosten ließe. Eines Abends aber, als ich wehmütig eine Bachsche Orgelfuge durchspielte, überkam mich plötzlich der Gedanke, dass ich die freien Stunden in Afrika gerade dazu benutzen könnte, mein Spiel zu vervollkommnen und zu vertiefen. Alsbald fasste ich den Plan, Kompositionen von Bach, Mendelssohn, Widor, César Franck und Max Reger nacheinander vorzunehmen, sie bis in die letzten Einzelheiten durchzuarbeiten und auswendig zu lernen, gleichviel ob ich Wochen und Monate auf ein einziges Stück verwenden müsste. Wie genoss ich es nun, so ohne zeitliche Gebundenheit durch fällige Konzerte, in Muße und Ruhe zu üben, wenn ich zeitweise auch nur eine halbe Stunde im Tage dafür aufbringen konnte!“ „Auch hier merke ich den Segen des weltfernen Arbeitens. Viele Bachsche Orgelstücke lerne ich einfacher und innerlicher auffassen als früher.“ „Urwaldeinsamkeit, wie kann ich dir jemals danken für das, was du mir warst! …“
„Dem Kampf um die wahre Orgel habe ich viel Zeit und Arbeit geopfert.“
Seine Kritik richtete sich unter anderem gegen die elektrischen Gebläse, wie sie zur Zeit Schweitzers zum Einsatz kamen, die den Wind mit viel zu hohem Druck in die Pfeifen jagen und dadurch ein Tonchaos erzeugen, das der Bach’schen Musik Gewalt antut. Albert Schweitzer gab entscheidende Impulse für eine Reform des Orgelbaus. Auf dem Kongress der Internationalen Musikgesellschaft von 1909 arbeitete er mit Gleichgesinnten grundlegende Orgelbaurichtlinien aus: ein „Internationales Regulativ für Orgelbau“, „das mit der blinden Bewunderung rein technischer Errungenschaften aufräumte und wieder gediegene, klangschöne Instrumente verlangte“.
„Durch ihren gleichmäßig und dauernd aushaltbaren Ton hat die Orgel etwas von der Art des Ewigen an sich“
Die besten Orgeln wurden laut Schweitzer zwischen 1850 und 1880 erbaut. Die Orgeln von Silbermann oder von Aristide Cavaillé-Coll kamen für ihn dem Ideal am nächsten. Einer der bedeutendsten Orgelbauer war für ihn Cavaillé-Coll, der Schöpfer der Orgeln zu Notre Dame und zu St. Sulpice in Paris. Letztere hielt Schweitzer für eine der schönsten der ihm bekannten Orgeln.
„Durch Erfahrungen, die eine Generation von der andern übernahm und ihrerseits machte, waren die alten Orgelbauer auf die besten Mensuren (Maßproportionen) und Formen der Pfeifen gekommen. Auch verwandten sie zum Bau derselben nur bestes Material. Der moderne Orgelbau (…) spart … am Material, um möglichst billig zu bauen. So stehen in der heutigen Fabrikorgel vielfach Pfeifen, die nicht klingen, weil sie einen zu geringen Durchmesser und zu dünne Wandungen haben oder aus anderem Material gearbeitet sind als aus bestem Holz oder aus bestem Zinn. (…) Wenn die alten Orgeln besser klingen als die heute erbauten, so liegt dies gewöhnlich auch daran, dass sie günstiger stehen. Der beste Platz für die Orgel ist bei einem nicht besonders langen Schiff der über dem Eingang, gegenüber dem Chor. Hier steht sie hoch und frei. Ihr Klang kann sich nach allen Seiten hin ungehemmt entfalten.“ „Bachs Orgelwerke (…) verlieren ihren wahren Charakter, wenn sie zu schnell gespielt werden. Sie verlieren ihre Wirkung, weil der Hörer den Tonlinien nicht mehr folgen und den Aufbau des Werkes nicht mehr erfassen kann, sondern nur ein Chaos von Tönen hört. (…) Bach selbst konnte nicht daran denken, seine Werke schnell zu spielen, weil die Mechanik seiner Manuale schwer zu spielen war. Ich selbst habe im Elsass noch Silbermann-Orgeln gespielt, bei denen das Niederdrücken der Tasten einen wirklichen Kraftaufwand erforderte. Ein anderes Hindernis ist die Tatsache, dass bei diesen alten Orgeln die Tasten zweimal so tief gehen wie bei modernen Orgeln. … aber wie wunderbar ist doch ihr Klang!“
Retter alter Orgeln
Nächtelang studierte Schweitzer Orgelpläne; Hunderte von Orgeln nahm er unter die Lupe. So manche wertvolle alte Orgel bewahrte er vor dem Abriss und beriet viele Gemeinden bei der Anschaffung neuer Orgeln.
„In die Hunderte und Hunderte gehen die Briefe, die ich an Bischöfe, Dompröpste, Konsistorialpräsidenten, Bürgermeister, Pfarrer, Kirchenvorstände, Kirchenälteste, Orgelbauer und Organisten schrieb, sei es, um sie zu überzeugen, dass sie ihre schöne alte Orgel restaurieren sollten, statt sie durch eine neue zu ersetzen, sei es, um sie anzuflehen, nicht auf die Zahl, sondern auf die Qualität der Stimmen zu sehen und das Geld … für bestes Material der Pfeifen zu verwenden. (…) Die schwersten Kämpfe galten der Erhaltung alter Orgeln. Welche Beredsamkeit habe ich aufwenden müssen, um Todesurteile, die über schöne alte Orgeln ergangen waren, rückgängig zu machen! (…) Die erste alte Orgel, die ich – mit welcher Mühe! – errettet habe, ist das schöne Werk von Silbermann zu St. Thomas in Straßburg.
„Der Klang einer alten Orgel umflutet den Hörer, während der der neuen wie eine Brandung auf ihn zukommt.“
Albert Schweitzer und Johann Sebastian Bach
Schweitzer schrieb umfangreiche Werke über Bachs Musik. Schweitzers Orgellehrer Charles-Marie Widor regte zu einem Buch über Johann Sebastian Bach an, durch das die französische Orgelwelt stärker mit der für Bach grundlegenden protestantischen Kirchenmusik und ihrem Wortbezug vertraut gemacht werden sollte Was als Aufsatz und Anleitung für Konservatoriumsschüler gedacht war, wuchs in der Ausarbeitung zu einem 455-Seiten-Werk (Jean-Sébastien Bach, le musicien-poète, Paris u. Leipzig 1905) an, das er in französischer Sprache abfasste.
Das Buch fand schlagartig großen Anklang in der Fachwelt, mit der Folge, dass eine deutsche Übersetzung erforderlich wurde. Es entstand ein völlig neu bearbeitetes, nahezu doppelt so umfangreiches Werk über Bach. Das deutsche Bachbuch erzielte eine Auflagenhöhe, die alles Vergleichbare der Musikliteratur samt Übersetzungen übertrifft. Es gilt auch heute noch – hundert Jahre später – als musikwissenschaftliches Standardwerk. „Das Größte an dieser urlebendigen, wunderbar plastischen, einzigartig formvollendeten Kunst ist der Geist, der von ihr ausgeht. Eine Seele, die sich aus der Unruhe der Welt nach Frieden sehnt und Frieden schon gekostet hat, lässt darin andere an ihrem Erlebnis teilhaben.“ „Was Bach mir ist? Ein Tröster. Er gibt mir den Glauben, dass in der Kunst wie im Leben das wahrhaft Wahre nicht ignoriert und nicht unterdrückt werden kann, auch keiner Menschenhilfe bedarf, sondern sich durch seine eigene Kraft durchsetzt, wenn seine Zeit gekommen.“
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