Von Gottfried Schüz
Sie erinnern sich: Sieben Tour-de-France-Siege wurden dem Amerikaner Lance Armstrong aberkannt. Während seiner Erfolgsserie wurde er nicht müde, gegen das Doping im Radsport zu wettern. Schaut her, so betonte er, ich zeige der Welt, dass man auch mit ehrlichen Mitteln das schwerste Radrennen gewinnen kann. Und mit ihm im Chor ließen die deutschen Radrenn-Stars Jan Ullrich und Erik Zabel ein ähnliches Lied erklingen – solange, bis sie angesichts erdrückender Doping-Nachweise nicht mehr leugnen konnten, dass das Gegenteil der Wahrheit entsprach. Diesen Sommer nun stand der Engländer Christopher Froomes in scheinbar unantastbarer Siegerpose auf dem höchsten Podest. Und schon häufen sich viele Fragen, wie es dem 30-Jährigen möglich war, zudem nach einer überstandenen schweren Krankheit – ganz ähnlich wie seinerzeit Armstrong -, die gesamte Konkurrenz derart überlegen hinter sich zu lassen.
Dies Beispiel aus dem Spitzensport ist nur die Spitze eines Eisberges. In Politik, Wirtschaft und Kultur werden wir fast täglich mit ähnlichen Fällen konfrontiert: Ob es um die Leugnung nachgewiesener Plagiate in Doktorarbeiten, ob um Bestechlichkeit, Steuerhinterziehung in Millionenhöhe oder um beharrlich dementierte Abhörskandale geht. Die Öffentlichkeit reagiert hochsensibel auf derartige Vorkommnisse. Schließlich steht das entscheidende Unterpfand eines gut funktionierenden Gemeinwesens auf dem Spiel, für das der ethische Begriff „Wahrhaftigkeit“ steht und mit ihm die mit ihr verwandten Tugenden wie Redlichkeit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit oder Glaubwürdigkeit.
Schweitzer erblickt in der „Wahrhaftigkeit“ das Fundament der Ethik. Dem Gedanken können wir gut folgen. Vor allem, wenn wir an unsere vielfältigen Beziehungen zu unseren Mitmenschen denken, aber auch an unser Verhältnis zu überpersönlichen Partnern, wie sie uns in gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen begegnen.
Wie sähe unsere Welt aus, wenn es gelänge, gegenüber dem Anderen „wahrhaftig“ zu bleiben; auf Lug und Trug, Täuschung oder Hinterlist zu verzichten?
Es gibt nicht Wenige, die in der Überzeugung leben, dass ohne solche Untugenden ein Zusammenleben kaum erträglich wäre. Welche menschlichen Zerwürfnisse würde es nach sich ziehen, wenn wir Kollegen, Freunden oder auch nur flüchtigen Bekannten all das, was wir an ihnen unerträglich empfinden oder auch nur auszusetzen haben, ungefiltert vor den Kopf werfen würden. So im Kleinen wie im Großen: Auch die Politik und Wirtschaft wäre bald am Ende, wenn man in allen Situationen und Belangen nichts als die ungeschminkte Wahrheit hinausposaunen würde. Sind wir nicht auf Schritt und Tritt bemüht, unser Reden und Tun so zu „verpacken“, dass wir keinen Anstoß erregen und Beziehungen zum eigenen Vorteil gestalten?
Und doch sind wir uns bewusst: Ohne Wahrhaftigkeit im Verhältnis zum Mitmenschen wäre einem vertrauensvollen Miteinander der Boden entzogen. Ja mehr noch, so konstatiert Schweitzer: „Die größte Gefahr aller Sittlichkeit ist die Unwahrhaftigkeit.“
Unser gesamtes gesellschaftliches Leben, ob im privaten oder öffentlichen Raum ist auf Wahrhaftigkeit angewiesen. Wir müssen uns auf Wort und Tat unseres jeweiligen Gegenübers prinzipiell verlassen können und unterstellen, dass es der Andere ehrlich meint; zumindest solange, bis eventuell Gegenteiliges offenkundig wird. Aber gerade die dann aufkommende Empörung über eine Lüge oder bewusste Täuschung, mit der man konfrontiert wird, signalisiert, wie inakzeptabel Unwahrhaftigkeit im zwischenmenschlichen Umgang im Grunde für uns ist.
Mit der Wahrhaftigkeit gegenüber dem Anderen ist nach Schweitzer jedoch nur eine Seite der ethischen Medaille getroffen. Sehr viel tiefer greift für ihn die Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst. Mit ihr gelange ich erst in ein ethisches Verhältnis zu mir selber. Und erst mit ihr erhält die Ethik ein tragfähiges Fundament.
„Ethisch ist der Mensch nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgend etwas Lebendigem Schaden zu tun“, schreibt Schweitzer.
Aber woraus entspringt diese Nötigung? Aus eben der Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst. Es ist „eine durch die Wahrhaftigkeit gegen sich selbst erzwungene Tat“, in Freud und Leid des Mitmenschen, ja auch in allem Leben das eigene zu erkennen und in seinen Lebensansprüchen als gleichberechtigt anzuerkennen. Wir haben uns daher weniger mit der vermeintlichen Schuld und Verantwortung unserer Mitmenschen auseinanderzusetzen. Stattdessen müssen wir uns der eigenen Gedankenlosigkeit und egoistischen Selbstbehauptung stellen. Gedankenlosigkeit und Egoismus, diese sich wechselseitig hervorbringenden Zwillinge, sind die entscheidenden Gegenspieler jeder Ethik. Denn beides lässt uns nur all zu leicht vergessen, was wir anderem Leben zu unserer Selbsterhaltung zu verdanken haben, ihm andererseits schuldig sind.
„Die Unwahrhaftigkeit uns selbst gegenüber ist uns zur Natur geworden“, so stellte Albert Schweitzer ernüchternd fest, um zugleich zu appellieren, unser Selbstverhältnis ins Reine zu bringen. Indem wir zur Selbstbesinnung kommen, erkennen wir, „dass alles in Verstellung, Lüge, Trug und Unlauterkeit geschehene Verhalten“, wodurch wir unserer Mitwelt irgendwelche vermeintlichen Vorteile abnötigen wollen, uns aus der solidarischen Verbundenheit mit allem Leben herauskatapultiert – einer Verbundenheit, der wir letztlich unser eigenes Dasein verdanken.
„Nicht dadurch“ so führt Schweitzer aus, „dass er anfängt, den Kreis seiner Hingabe an andere Menschen weiter zu ziehen und gütiger zu sein, tut der Mensch den Schritt aus der niederen Ethik in die höhere, sondern dadurch, dass er Lug, Trug, Verstellung und Hinterlist verurteilt und abzulegen versucht.“
Wahrhaftigkeit, erst recht Wahrhaftigkeit gegenüber uns selbst, ist also ein für unser Menschsein grundlegendes Thema, auf das uns Albert Schweitzer aufmerksam macht. Mit ihr steht und fällt jede Erziehung, die sich als Selbsterziehung eines Jeden von uns entpuppt, – und zwar lebenslang.