Von Hartmut Feifel
Vom 29. Mai bis 8. Juni 2014 reisten wir, vier Mediziner aus Aachen, nach Lambarene, um dort erstmals Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten zu operieren. Ich hatte als Mund-Kiefer-Gesichtschirurg bereits aus fünf humanitären Einsätzen in Tadschikistan von 2009 bis 2013 umfangreiche Erfahrungen in der Behandlung von Patienten mit Spalten sammeln können. Christian Wolf, Facharzt für Anästhesiologie, Eda Dag, zahnmedizinische Fachangestellte und Serife Kara, anästhesiologische Fachschwester waren dort zuletzt auch dabei, so dass wir als Team gut aufeinander eingestellt waren. Begleitet wurden wir vom Präsidenten der Fondation Internationale de l´Hôpital du Docteur Albert Schweitzer à Lambarene, Dr. Daniel Stoffel. Er hat uns freundlichst betreut, kompetent in die Gegebenheiten vor Ort eingeführt, mit den Menschen in Lambarene bekannt gemacht und sich um unsere Unterkunft und Verpflegung gekümmert. Wir konnten mit ihm und dem ihn begleitenden Gesundheitsökonomen Peter Schär viele Gepräche bei den täglichen Mahlzeiten und unserem kleinen Rahmenprogramm führen und so Einblicke in das Leben und die Geschichte des Hospitals gewinnen.
Wie war es zu diesem Einsatz gekommen? Albert Schweitzer hatte sein Hospital 1913 gegründet. Zum 100-jährigen Jubiläum fanden 2013 europaweit über 200 Orgelkonzerte statt. Die Erlöse dieser Benefizkonzerte gingen an den Deutschen Hilfsverein für das Albert-Schweitzer-Spital in Lambarene. Wie Schweitzer spiele ich auch Orgel und hatte das Konzert im Aachener Dom gestaltet. Bei seiner Vorbereitung hatte ich mehrere Verantwortliche der verschiedenen das Spital unterstützenden Vereine kennengelernt. Meine Idee eines medizinisches Einsatzes zur Versorgung von Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten fand positive Resonanz, da diese Erkrankungen bislang im Spital nicht behandelt worden waren. Und so machten wir uns an die Arbeit. Eine Reihe von Impfungen beginnend ein Jahr vor Reiseantritt musste durchgeführt werden. Viel administrativer Aufwand bis zur Visumerteilung war erforderlich. Parallel dazu stellten wir unsere medizinische Ausrüstung zusammen: Operationsinstrumente, Stirnlampe, Elektrokoagulationsgerät, Narkosegerät, Medikamente, Verbandsmaterial, Desinfektionsmittel und vieles mehr. Wegen des zulässigen Höchstgewichts des Gepäcks von 23 kg pro Person wurde nur das für den Einsatz Nötigste mitgenommen. Es zeigte sich, dass man trotz der reduzierten Ausrüstung sehr gute Medizin leisten kann.
So kamen wir schließlich nach längerer Anreise in Lambarene an und wurden im Gästehaus in der historischen Zone untergebracht. Zu Details von Reise und Unterbringung möchte ich auf den Bericht von Ilse und Ernst Luther verweisen, die hierzu ausführlich geschrieben haben. Ihre Erfahrungen sind denen, die wir gemacht haben, sehr ähnlich. Nähere Informationen zum Hospital können dem Bericht von Pfarrer Quest entnommen werden.
Bei einem ersten humanitären Einsatz an einem neuen Ort ist manches ungewiss und überraschend. Obwohl uns unsere Erfahrungen aus Tadschikistan zugute kamen, war in Lambarene doch vieles neu. Am Sonntag machten wir uns mit den Gegebenheiten „unseres“ Operationssaals vertraut und richteten die vorhandene Ausstattung und die von uns mitgebrachten Geräte und Materialien so ein, dass wir am Folgetag direkt mit den Eingriffen beginnen konnten. Die vorhandene Einrichtung war dank mehrerer Spenden an das Spital auf recht hohem Niveau, die Voraussetzungen für uns damit günstig.
Zwar war unser Einsatz Monate vorher vor Ort und in manchen Medien auch überregional angekündigt worden. Dennoch waren am Montag, unserem ersten Behandlungstag, nur 2 Patienten in die Poliklinik gekommen. Wir untersuchten die Beiden in der Poliklinik und operierten sie anschließend. Wie bei solchen Einsätzen nicht ungewöhnlich, gab es am ersten Tag kleinere organisatorische Schwierigkeiten. Am Abend wussten aber alle über die Ausrüstung, Geräte und Abläufe Bescheid. Die Mitarbeiter des Hospital waren zunächst skeptisch, kannten sie derartige Eingriffe doch nicht. Wir bezogen sie in die Behandlungen weitestmöglich ein. Ihr Interesse wuchs zunehmend, und so informierten sie ihre Bekannten aus Lambarene mit Spalten, die sich dann spontan bei uns vorstellten, um auch operiert zu werden.
Christian Wolf erklärte den Anästhesisten vor Ort Besonderheiten der Narkosen bei Spaltpatienten. Im Albert-Schweitzer-Spital werden die Narkosen bei den dort durchgeführten Eingriffen nicht von Ärzten, sondern von medizinischen Mitarbeitern, die darin speziell ausgebildet wurden, durchgeführt. Als Übersetzer fungierte ein junger Arzt aus Österreich, der am Spital arbeitete.
Am Mittwoch untersuchten wir einen 15-jährigen Jungen aus Franceville. Er erzählte, dass ihn seine Lehrer nicht ernst nähmen, er von seinen Mitschülern und Bekannten gehänselt und gemieden würde und er deshalb nicht mehr leben wollte. Als Säugling konnte sich seine Familie den Eingriff von umgerechnet 3000 Euro in Libreville nicht leisten. Von unserem Einsatz hatte er aus dem Fernsehen erfahren und war mit seiner Mutter aus dem Landesinneren ins Albert-Schweitzer-Hospital nach Lambarene gereist. Wir verschlossen von seiner breiten Spalte die Lippe bis zur Mitte des harten Gaumen. Der Verschluss des restlichen harten Gaumens und Gaumensegels wird in einem zweiten Eingriff durchgeführt. Die glückliche Mutter bat uns bei der Visite, dazu wieder nach Lambarene zu kommen. Sie wollte dann auch weitere Bekannte aus ihrem Dorf mit Spalten zur Behandlung mitbringen.
Die Patienten waren nach den Eingriffen in der chirurgischen und pädiatrischen Station untergebracht. Sie wurden, wie im Spital üblich, von den Anghörigen versorgt und gepflegt, nur für die medizinischen Belange waren Krankenschwestern und Ärzte zuständig. Wir führten regelmäßig Visiten durch und freuten uns, dass die Wundheilungen alle komplikationslos verliefen. Die Nachbehandlungen der Operationswunden nahmen wir in der Zahnklinik vor. Die Behandlungsstühle dort waren dafür besonders geeignet.
Bis Donnerstag Abend hatten wir schließlich fünf Patienten mit zum Teil schweren Fehlbildungen operiert. Am Freitag führten wir mehrere Gespräche, um für den nächsten Einsatz, den wir 2015 durchführen möchten, die Einbestellung und Gewinnung von Patienten zu optimieren. Ein Pressebericht wurde vom Generaldirektor des Hospitals, Herrn Nziengui, vorbereitet. Der Finanzchef des Hospitals, Herr Fotouri, wollte Poster herstellen, um diese in Gabun in anderen Hospitälern zu verteilen. Dr. Joseph, der Zahnarzt des Hospitals wollte bei seinen Reihenuntersuchungen von Kindern im Landesinneren auf unseren geplanten Einsatz hinweisen und die Chirurgen des Spitals wollten ihre Kollegen anderer Krankenhäuser informieren. Die Mund-zu-Mund-Propaganda der Hospitalmitarbeiter und der versorgten Patienten dürfte ein Weiteres beitragen.
Neben unserer medizinischen Arbeit hatten wir Gelegenheit, Lambarene und Umgebung, die Menschen vor Ort und Albert Schweitzers Tätigkeit näher kennen zu lernen. So konnten wir am arbeitsfreien Samstag bei einer Bootsfahrt auf dem Ogowe die Schönheiten der Natur bewundern. Daniel Stoffel zeigte und erläuterte uns das Spitalgelände mit seinen Besonderheiten, das Lepradorf und den Friedhof. Zu den Besichtigungen gehörte auch eine Exkursion in den angrenzenden Dschungel. Bei einem Abendessen in einem netten einheimischen Lokal in Lambarene gab es Ogowe-Karpfen mit den landesüblichen Beilagen, kulinarisch sehr reizvoll. Nach der Arbeit spazierten wir jeden Abend mit Taschenlampen ausgerüstet mitten durch den dunklen Dschungel in eine nahegelegene kleine Taverne, wo wir den Tag ausklingen ließen und uns bei einem Glas Bier, Cola oder Pampelmusensaft über viele interessante Themen nicht nur bezüglich des Hospitals austauschten.
Eine Führung durch das historische Hospital und das Museum vermittelte bleibende Eindrücke über die Arbeit Albert Schweitzers unter den seinerzeit nicht einfachen Bedingungen. Für mich als nebenberuflichen Organisten war der Besuch seines Arbeitszimmers, wo noch immer sein Klavier steht, besonders bewegend. Hier hatte Schweitzer jeden Abend nach seiner Arbeit geübt, um sein künstlerisches Niveau zu halten und sich auf seine Benefizkonzerte zugunsten seines Hospitals, die er während seiner Aufenthalte in Europa und den USA gab, vorzubereiten. Die musikalische Seite Schweitzers tritt angesichts seiner anderen Tätigkeiten meistens in den Hintergrund, obwohl er auch auf diesem Gebiet, insbesondere in der musikwissenschaftlichen Bewertung Bachs, Bleibendes hinterlassen hat.
In Schweitzers ehemaligem Arbeitszimmer in Lambarene befindet sich nun das Klavier, auf dem er im Speisesaal des Spitals in der Regel nach dem Abendessen selbst gespielt hat. Es ist ein Geschenk aus Bremen und wie das Klavier in Günsbach speziell für das tropische Klima gefertigt. Daher ist es komplett verschraubt, und seine weißen Tasten sind aus Bakelit, einem widerstandsfähigen Kunststoff. Dennoch hat es schwer gelitten und ist nicht mehr spielbar. Nur einzelne Tasten lassen noch Töne erklingen.
In dem zur historischen Zone gehörenden Refectoiré wurden wir bestens mit einheimischer Küche verpflegt. Hier hatten Schweitzer und seine Mitarbeiter ihre Mahlzeiten eingenommen. Von einem Bild in seinen späten Jahren blickt er in den hellen Raum. Im Refectoiré schrieb ich auch die täglichen Berichte zu unserem Einsatz.
Abschließend darf ich ein kleines Resümee ziehen. Wir verbrachten acht Tage in Lambarene und sammelten dabei viele bleibende Erfahrungen. Besonders beeindruckte, was Albert Schweitzer aufgebaut und angestoßen hatte. Sein Vermächtnis ist an allen Orten im Spital spürbar. Leider ist die ökonomische Situation des Spitals selber nicht so sicher, wie man es sich wünschen möchte. Wir konnten fünf Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten operieren, für einen Ersteinsatz zufriedenstellend. Man sollte auch nicht vergessen, dass es sich bei jedem Patienten um ein Einzelschicksal handelt und durch die Behandlung ein menschenwürdigeres Leben ohne soziale Ausgrenzung ermöglicht wird. Schon deshalb war dieser Einsatz wertvoll. Er wurde durch den persönlichen und finanziellen Einsatz aller Teammitglieder sowie die Unterstützung durch den Deutschen Hilfsverein für das Albert-Schweitzer-Spital in Lambarene, das Marienhospital Aachen und meinen Praxispartner Karsten Kasperek ermöglicht. Allen Genannten danke ich ausdrücklich für ihre Hilfe. Für weitere derartige Einsätze sind wir auf Spenden angewiesen. Einen weiteren Einsatz haben wir für 2015 geplant. Er wird allerdings von wirtschaftlichen Umständen und einer möglichen weiteren Ausbreitung der Ebolaepidemie abhängen. In diesem Sinne wünsche ich dem Hospital eine positive Entwicklung, damit das Erbe Albert Schweitzers erhalten bleibt.