Unerwartete Geburtshilfe im Urwald

Von Roland Wolf

Matthias Läng ist Medizinstudent im sechsten Jahr an der Universität Bern. Im Rahmen des regelmäßigen Praktikantenaustauschs zwischen seiner Universität und dem Albert-Schweitzer-Spital ist er seit Anfang Juli in Lambarene. Sein selbst gewählter Arbeitsort ist die Kinderklinik, denn Kinderarzt zu werden, ist sein größter Wunsch.

Als Matthias in Lambarene eintraf, trat der Kinderarzt des Spitals, Dr. Kokou, gerade seinen zweimonatigen Urlaub an. In Ermangelung eines Facharztes, der trotz aller Bemühungen nicht zu bekommen war, wurde Dr. Kokou von einem gabunischen Allgemeinmediziner ohne große Berufserfahrung vertreten. So lastete eine große Verantwortung auf Matthias, der seine Tätigkeit von Anfang an sehr gewissenhaft und mit großem Engagement ausübte.

Die Kinderklinik ist eine der am meisten frequentierten Abteilungen des Krankenhauses. Meist liegen in den Zimmern 20 bis 25 kranke Kinder, Untätigkeit ist hier für das Personal ein Fremdwort. Und wenn man die Arbeit mit den kleinen Patienten mit Leib und Seele tut, dann gibt es keine festen Essenszeiten, und der Begriff Feierabend ist sehr dehnbar.

Nicht selten wartete ich so im Speisesaal vergeblich auf Matthias. Einmal traf ich ihn um halb vier auf dem Weg dorthin, wo er sich zehn Minuten gönnte, bevor er wieder zu einem Notfall zurückkehren wollte. Und am nächsten Tag kam er traurig an und konnte zunächst nichts essen: Der kleine Junge, der am Vortag durch Kaiserschnitt entbunden worden war, hatte nicht gerettet werden können.

So ist es mehr als verständlich, dass nach zwei anstrengenden Monaten der Wunsch nach einer Verschnaufpause, nach einer Abwechslung vom harten Spitalalltag aufkam. Valdo, ein gabunischer Bekannter aus dem benachbarten Stadtteil Adouma, organisierte eine motorisierte Piroge, in der eine kleine Gruppe von Ärzten und Medizinstudenten des Schweitzer-Spitals Platz nahm: außer Matthias der zweite Schweizer Student Stephan, der in der Chirurgie tätig ist, die französische Notfallärztin Brigitte, die ebenfalls aus Frankreich kommende Internistin Sabrina und der im Forschungslabor arbeitende Jonathan aus Deutschland.

Ziel der Gruppe waren die Seen im Nordwesten von Lambarene. Dort, am Nkonié-See, drei Bootsstunden von Lambarene entfernt und weitab von der nächsten Straße lebten Valdos Vorfahren, dort lebt heute noch ein Teil der Familie, und dorthin zieht es in der Ferienzeit die in der Stadt lebenden Familienmitglieder zurück. Denn die Ferienzeit fällt mit der Trockenzeit zusammen, und Trockenzeit bedeutet Fischreichtum. Denn dann sinkt der Wasserstand in den Seen, und der im ganzen Land begehrte Lambarene-Karpfen kann mit Netzen in großer Menge aus dem Wasser gezogen werden. Mit dieser ursprünglichen Lebensweise, wie sie seine Vorfahren seit Generationen praktizieren, will Valdo die jungen Europäer bekannt machen.

Kaum war die Gruppe in der kleinen Siedlung angekommen, da gibt es auch schon eine große Portion von leckerem, frisch zubereitetem Fisch aus dem See, den sich alle munden lassen. Jonathan, der kurz vor dem Ende seines einjährigen Aufenthaltes steht, packt seine Gitarre aus und gibt einige gabunische Melodien zum Besten, kräftig unterstützt von etwa 20 Kindern, die sich um ihn versammelt haben.

Valdos nach ihrer eigenen Aussage im achten Monat schwangere Nichte, Mamie, hält sich im Hintergrund. In einigen Wochen will sie das Schweitzer-Spital aufsuchen, um dort ihr Kind zur Welt zu bringen. Doch es sollte anders kommen. Davon ahnt jedoch die Gruppe nichts, als sie sich am nächsten Morgen mit Valdos Familie auf Fischfang begibt. In harter Arbeit ziehen sie das lange Netz durch das hüfttiefe Wasser, doch die Mühe wird belohnt, und sie bringen eine beträchtliche Menge von Karpfen nach Hause.

Dort herrscht schon helle Aufregung, denn die schwangere Nichte liegt bereits seit einigen Stunden in den Wehen. Die Berechnung des Geburtstermins bei Afrikanerinnen ist oft ungenau, das wissen die Ärzte. So auch in diesem Fall. Nach einer kurzen Untersuchung sind sich alle Mediziner einig: Für einen Bootstransport mit der Piroge nach Lambarene ist es zu spät, die Geburt muss an Ort und Stelle erfolgen.

Schnell werden ein paar Tücher organisiert und eine Rasierklinge über dem Feuer sterilisiert. Als ausgebildete Notfallärztin leitet Brigitte die Geburt. Das Fruchtwasser ist trübe, der Körper des Neugeborenen voller Stuhlgang, ein Zeichen von Stress. Es besteht die Gefahr, dass er in die Lunge gerät.

Auch nach zwei Minuten kräftiger Stimulation wirkt der kleine Körper leblos, keine Atmung ist spürbar. Matthias beginnt den Neugeborenen zu reanimieren. Nach etwa einer Minute erhöht sich die Herzfrequenz, und der Kleine schnappt endlich nach Luft. Die ganze Familie ist erleichtert. Und beschließt spontan, den Jungen Matthias zu nennen.

Schnell werden die hungrigen Mägen mit etwas Fisch besänftigt, dann werden Mutter und Kind vorbei an einer Gruppe von Flusspferden mit dem Boot ins Albert-Schweitzer-Spital gebracht, wo der kleine Matthias in der Kinderklinik aufgenommen wird. Unter der fürsorglichen Obhut seines Retters und großen Namensvetters entwickelt er sich schnell zu einem prächtigen Baby. Davon kann sich der große Matthias einige Wochen später überzeugen, als er Mutter und Sohn in Adouma besucht.

Seit es keine fest angestellten europäischen Mitarbeiter mehr im Spital gibt, ist die Entsendung von Medizinstudenten oder Ärzten in der Facharztausbildung nach Lambarene eine wichtige Form der Unterstützung. Nicht nur, wenn es um schnelle Hilfe im „Busch“ geht, sondern auch in der täglichen Spitalpraxis. Junge Schweizer, Franzosen und Deutsche sind deshalb eine willkommene Bereicherung für das nunmehr hundert Jahre alte Werk Albert Schweitzers „zwischen Wasser und Urwald“.