Schafft euch ein unscheinbares Nebenamt

Die beiden Jubiläumsjahre „100 Jahre Albert-Schweitzer-Spital in Lambarene“ (2013) und „100 Jahre Ehrfurcht vor dem Leben“ (2015) haben wir mit einer großen Zentralfeier im traditionsreichen Frankfurter Römer (Festredner: unser Schirmherr Friedrich Schorlemmer), Symposien (2015 gemeinsam mit der Erich-Fromm-Gesellschaft), zahlreichen Vorträgen, einer neuen Wanderausstellung und etwa 200 Benefizkonzerten ausgiebig gefeiert. Zum 50. Todestag von Albert Schweitzer am 4. September kamen etwa 80 Gedenkkonzerte hinzu, sodass wir allein durch die Konzerte mit reichlichem Informationsmaterial ungefähr 50.000 Menschen erreicht haben. Die Medienpräsenz war, nicht zuletzt durch eine Pressekonferenz Anfang 2013 im Konzerthaus in Berlin, nicht nur erfreulich hoch, sondern auch ganz überwiegend positiv.

Die Reaktionen der Menschen bei unseren vielen persönlichen Begegnungen, aber auch bei einer Allensbach-Umfrage sowie im Internet, waren durchaus ermutigend. Sie zeigten uns, dass Albert Schweitzer auch 50 Jahre nach seinem Tod einen festen Platz im Gedächtnis der Deutschen hat. Dabei gewinnt der grundlegende Satz seiner Kulturphilosophie „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ angesichts zahlreicher Kriege mit unvorstellbarer Brutalität, der Bedrohung durch die Klimaveränderung sowie einer „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ zunehmend an Bedeutung. Es wird auch kaum möglich sein, den Teufelskreis der Instrumentalisierung durch neue nationalistische Egoismen, einseitig fehlinterpretierte Religionen und geistig verengende Ideologien ohne das von Schweitzer formulierte Ideal der „Ehrfurcht vor dem Leben“ zu durchbrechen.

Dabei lohnt es sich der Frage nachzugehen, auf welchen Voraussetzungen Schweitzers Ideal beruht. Nach seinem eigenen Zeugnis steht er in der Nachfolge der europäischen Aufklärung: jener geistigen Bewegung, die im 18. Jahrhundert das immer noch vorherrschende christlich-kirchlich-dogmatische Weltbild grundlegend infrage stellte und nach und nach durch ein freiheitliches, naturwissenschaftliches und toleranteres ersetzte. Wenn Immanuel Kant in seinem 1783 veröffentlichten Aufsatz „Was ist Aufklärung“ dem einzelnen Menschen zuruft: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, so bedeutet das, dass sich kein Mensch, der wirklich frei sein will, unreflektiert Ideologien, Dogmen oder einer äußeren Autorität unterwerfen darf. Die Folge dieser Befreiung ist eben jene Toleranz gegenüber anderen Kulturen, Religionen, Menschen und Meinungen, die heute so nottut. Es war auch die Aufklärung, die nach Jahrhunderten von den Kirchen beherrschter, angeblich christlicher Kultur endlich Hexenverbrennungen, Folter und Leibeigenschaft abschaffte, die allgemeinen Menschenrechte proklamierte und Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu höchsten Werten erhob.

Die Aufklärung ihrerseits ist eine organisch gewachsene Frucht der Renaissance: jener Rückbesinnung auf das antike Kulturerbe, die es z. B. Erasmus von Rotterdam möglich machte, schon vor einem halben Jahrtausend „die Rückkehr zu Frieden, Versöhnung und gegenseitiger Anerkennung statt Ausgrenzung, Erniedrigung, Mord und Totschlag“ als Ideal zu verkünden. Die Renaissance aber mit ihrer Wiederentdeckung der klassischen Antike wäre nie möglich gewesen, wenn nicht die Araber in den dunklen Zeiten des europäischen Mittelalters die Werke der antiken Autoren sorgfältig gesammelt und dadurch vor dem endgültigen Verschwinden bewahrt hätten.

Diese großartige Leistung der islamischen Kultur – ohne welche die Entstehung der neuzeitlichen europäischen Zivilisation gar nicht möglich gewesen wäre – sollte man nie vergessen, wenn es darum geht, den Islam als solchen zu beurteilen. Tatsächlich machte der Islam lange vor Europa, und zwar bereits im 10. Jahrhundert beginnend, eine Entwicklung durch, die „so viel aufklärerischer war“, dass „das traditionelle Schrifttum bisweilen moderner anmutet als der theologische Gegenwartsdiskurs“ (Navid Kermani).

Wenn der Höhepunkt der islamischen Kultur der Vergangenheit angehört und ihre Vertreter sich heute oft alles andere als aufgeklärt gebärden, so dürfen wir nicht vergessen, dass auch die europäische Zivilisation – laut Albert Schweitzer – etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Niedergang begriffen ist. Als Folge dieses Kulturverlustes sehen wir dann die blutigen barbarischen Ideologien und Kriege des 20. Jahrhunderts. Ob das 21. Jahrhundert besser wird, ist noch nicht absehbar, denn die lokalen und globalen Probleme nehmen eher zu, vor allem wenn man an die Klimaentwicklung und die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Afrika denkt.

Doch gerade die Flüchtlingsproblematik zeigt, wie notwendig es ist, die großen Errungenschaften der Aufklärung wie Humanität, Rechtsstaat sowie die Befreiung des öffentlichen Lebens aus der Bindung an die Kirche zu erhalten. Diese Ideale haben jedoch nur einen Sinn, wenn sie sich im täglichen Handeln bewähren. So klar es ist, dass wir Europäer nicht unendlich viele Menschen aufnehmen können, so selbstverständlich sollte es andererseits sein, dass wir diejenigen, die zu uns kommen, brüderlich empfangen und behandeln. Da kann jeder mithelfen, sie zu integrieren – wobei man selbstverständlich von den Flüchtlingen verlangen muss, dass sie die Humanitätsideale der Aufklärung akzeptieren, welche die innere Grundlage unseres Rechtsstaates bilden.

Die zum Teil aggressive Ablehnung der Flüchtlinge hat wohl ihre Gründe vor allem in der Angst vor dem Fremden und der Furcht, dass durch die Aufnahme so vieler Menschen unser Wohlstand gefährdet sein könnte. Doch sollte man nie vergessen, dass wir diesen Wohlstand zu einem Teil der Ausbeutung der Entwicklungsländer verdanken – und dass die Situation, welche die Menschen dort zur Flucht zwingt, überhaupt erst durch diese Ausbeutung entstanden ist! Anstatt uns fortwährend Sorgen um unseren ohnehin übersteigerten Wohlstand zu machen, wäre es wohl besser, wenn wir einen Teil davon an die heimat- und mittellosen, kriegsgeschädigten Menschen abgeben würden, die voller Vertrauen zu uns kommen – und dass wir die Opfer, die uns dabei abverlangt werden, mit Freude bringen.

Das wäre jedenfalls im Geiste jenes Jesus von Nazareth, auf den sich diejenigen berufen, die vorgeben, das Christliche Abendland verteidigen zu wollen, – und auch im Geiste Albert Schweitzers, der Ethik als die Forderung nach bedingungsloser Hingabe an die Mitgeschöpfe definierte.

„Denen, die sich im Beruf nicht als Mensch an Menschen ausgeben können und sonst nichts haben, um es dahinzugeben, mutet sie zu, etwas von ihrer Zeit und Musse, auch wenn sie ihnen kärglich zugemessen sind, zu opfern. Schafft euch ein Nebenamt, sagt sie zu ihnen, ein unscheinbares, vielleicht geheimes Nebenamt. Tut die Augen auf und suchet, wo ein Mensch oder ein Menschen gewidmetes Werk ein bisschen Zeit, ein bisschen Freundlichkeit, ein bisschen Teilnahme, ein bisschen Gesellschaft, ein bisschen Arbeit eines Menschen braucht. Vielleicht ist es ein Einsamer, oder ein Verbitterter, oder ein Kranker, oder ein Ungeschickter, dem du etwas sein kannst. Vielleicht ist es ein Greis oder ein Kind. Oder ein gutes Werk braucht Freiwillige, die einen freien Abend opfern oder Gänge tun können. Wer kann die Verwendungen alle aufzählen, die das kostbare Betriebskapital, Mensch genannt, haben kann! An ihm fehlt es an allen Ecken und Enden! Darum suche, ob sich nicht eine Anlage für dein Menschentum findet. Lass dich nicht abschrecken, wenn du warten oder experimentieren musst. Auch auf Enttäuschungen sei gefasst. Aber lass dir ein Nebenamt, in dem du dich als Mensch an Menschen ausgibst, nicht entgehen. Es ist dir eines bestimmt, wenn du nur richtig willst. So redet die wahre Ethik von denen, die nur etwas Zeit und etwas Menschentum herzugeben haben. Wohl ihnen, wenn sie auf sie hören und davor bewahrt bleiben, wegen versäumter Hingabe verkümmerte Menschen zu werden.“

Aus: Albert Schweitzer, Kulturphilosophie. Band I: Verfall und Wiederaufbau der Kultur (1923); Band II: Kultur und Ethik (1923), Verlag C.H. Beck, München 2007, S. 321