Predigt anlässlich eines Gottesdienstes zum Thema Albert Schweitzer in Frankfurt

Liebe Besucherinnen und liebe Besucher dieses besonderen Gottesdienstes an diesem Sonntagmorgen – hier in der Andreas-Kirche in der AS-Siedlung!

Über Gott zu sprechen bedeutet für mich immer auch vom Menschen zu sprechen. Die Bibel – das Buch des Lebens – erzählt uns auch von Menschen. Lebens-Geschichten von Menschen. Sie ist voll solcher Geschichten. Lebens-Geschichten von Menschen, Menschen mit Gotteserfahrungen.

Albert Schweitzer ist für mich auch solch ein Mensch – ein Mensch wie Du und ich, der seine von seinem Schöpfer gegebenen Gaben liebe- und verantwortungsvoll kultiviert hat, der seinen Kräften entsprechend aus seinen Talenten das Beste gemacht hat, der seinen Weg, seine Berufung, sein Lambarene gefunden und sich selbst – nämlich in seinem Menschsein – verwirklicht hat. Festgegründet auf seinem christlichen Glauben, brennend für seinen Herrn Jesus, bestrebt diesem nachzufolgen: so wurde sein Leben, sein gesamtes Lebenswerk zu einem einzigen Gottesdienst.

Albert Schweitzer – ein gelungenes Leben, ein Lebenskünstler, ein Hochseilartist, Schritt für Schritt seinen Weg auf dem dünnen Seil seines Lebens suchend, eigenwillig, seine Balance findend zwischen Selbst-Vervollkommnung und Hingabe.

Albert Schweitzer, wie die meisten ihn kennen: Theologe, Prediger, Universitätsdozent für Neues Testament, Musiker, Orgelspezialist, Bach-Experte, Denker, Kulturphilosoph, Begründer der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben und in Lambarene:

morgens Arzt, nachmittags Baumeister, abends Musiker und nachts (auch noch!) Schriftsteller. (Puh!) Mahner für den Frieden, Friedensnobelpreisträger…(Stopp, es reicht!!!) In einem Wort: ein Universalgenie!!! Eine Art Heiliger, ein Vorbild, unnachahmlich gut, aber unerreichbar!!! (für mich, Otto-Normalmensch. Dagegen muss ich mich doch wie ein kleines Würstchen fühlen! Nein, Du musst nicht! Da brauche ich doch gar nicht erst anzufangen. Doch! Sollst Du!! Hör niemals auf anzufangen!!!)

Albert Schweitzer mahnt uns: „Bruder Mensch, hör’ niemals auf Du selbst zu sein!“ Oder wie ich diesen Appell an mich verstehe, andersherum ausgedrückt und erweitert:

Schwester-Mensch, (Bruder-Mensch) fang endlich an zu sein! (anstatt nur Haben zu wollen, zu sein, nämlich „Lebend-Ich“ zu sein, lebendig zu sein, Deine menschlichen gottgegebenen Eigenkräfte zu kultivieren und zu entfalten und zum Wachstum zu bringen, anstatt Dich immer mehr vom Materiellen und der Technik abhängig zu machen!)

Fang endlich an da zu sein! (nämlich im Hier und jetzt präsent zu sein, ja für Deine Welt ein Präsent zu sein, anstatt dich pausenlos durch gedankenlose Überbeschäftigung vom Wesentlichen abzulenken, Dich ständig auf der Flucht vor Deinem Inneren zu befinden, und in Folge dessen Deinen Kräfteverlust und Deine Leere mit Ersatzbefriedigungen kompensieren zu müssen!)

Fang endlich an Du selbst zu sein! (nämlich tief in Deinem Innern darüber nachzudenken wer oder was denn eigentlich Dein sogenanntes Selbst ausmacht, wenn der überwiegende Teil Deines Potenzials doch noch in Deinem Unbewussten schlummert?) (Puh, das sind ja Lebensaufgaben! Tja genau, das sind sie! )

Albert Schweitzer sieht seine Lebensaufgaben so: „Was ich will, das kann kein Hirngespinst sein. Dafür bin ich zu realistisch… Aber das zu geben, was ich geben möchte … meine Liebe, mein Leben, meine Zeit – … das ist ein Bedürfnis für mich, mehr noch, das Leben! … Ich erwarte etwas anderes, etwas, das mein Leben betrifft! Ich habe nicht mehr den Ehrgeiz, ein großer Gelehrter zu werden, sondern mehr – einfach ein Mensch“.

Also nur Menschsein als Lebensaufgabe?

Übrigens, K. Lorenz hat dies, wie ich finde, ernüchternd, aber doch ziemlich treffend so ausgedrückt: „Der Übergang vom Affen zum Menschen sind wir!“ Schweitzer sagt:„Wir alle sind nicht Menschen, sondern Wesen, die in einer von der Vergangenheit überkommenen Zivilisation geistig gefangen gehalten und eingeengt sind. Keine Bewegungsfreiheit, nichts. Der Mensch, alles in uns wird getötet durch die Berechnung unserer Zukunft, unserer sozialen Stellung, unseres Ranges.“

Albert Schweitzer erkannte für sich, dass sein menschliches Glück darin bestand, sein altes Leben loszulassen, ja es bewusst verlieren zu wollen, um es neu geschenkt zu bekommen, um seine geistige Freiheit wiederzuerlangen. Zitat: „Die größte Entscheidung deines Lebens liegt darin, dass du dein Leben ändern kannst, indem du deine Geisteshaltung änderst.“ Und weiter: „Ich lebe – ich kümmere mich nicht um (die bürgerliche) Existenz. Das ist der Anfang der Weisheit: nämlich einen Wert für diese Existenz zu suchen. Ich habe ihn gefunden … Jesus dienen … und das ist dann ein ungeheures Glücksgefühl, wie wenn man in einem ganz tiefen Schacht ein Licht schimmern sieht, wie wenn man Töne um sich hört. Man fühlt sich entwurzelt, denn man fragt sich, was kommen wird, welchen Entscheidungen man folgen soll – aber lebendiger, glücklicher…- Mit losgerissenem Anker treiben – “

Ein mutiger Schritt, sich vollkommen Gottes Hand auszuliefern, aber er treibt ja in den Wassern des Lebens, in der Gewissheit getragen zu werden, vertrauend auf Gottes Führung. Dies bedeutet aber keineswegs Untätigkeit, sondern wachsame Passivität, ein Sich-finden-lassen von der Aufgabe, für die er bestimmt ist, von dem Ort, an den er berufen wird, von dem Weg, den sein Herr ihm weisen wird.

Wie wir wissen, fasste Albert Schweitzer als Einundzwanzigjähriger einen Entschluss, nämlich dass er bis zum 30. Lebensjahr für sich, die Wissenschaft und die Kunst leben und dann den Weg des unmittelbaren Dienens gehen würde. Er wusste zwar damals noch nicht wie, aber er wusste, dass er gehen würde, und er vertraute dabei auf Gottes Antwort. Nun ließ er los, in der Gewissheit irgendwann SEINEN Ruf wahrnehmen zu können.

Albert Schweitzers Denken ist seit seiner Kindheit immer schon tiefgründig und elementar. Es ist ein bewusstes, ein bewusstseinserweiterndes Denken. Ein ganzheitlicher, immerwährender Denkprozess, aus dem sich der Mensch von innen heraus wandelt und ständig ein neuer wird. Ein lebenslanger Entwicklungs- und Lernprozess. Er nennt es erlebendes Denken und denkendes Erleben.

Das erste meint eine Art zweidimensionales Denken: d. h. nicht einseitig intellektuell, sondern mit Beteiligung aller Sinne denkend, mitfühlend also erlebend.

Und denkendes Erleben heißt: achtsam auf das Erlebte schauen, es reflektieren, Erkenntnisse aus den Erfahrungen gewinnen, aus der eigenen Tiefe deuten und die rechten – dem Leben dienlichen Schlüsse – daraus ziehen.

Das elementare Denken ist also ein Herz und Verstand wieder verbindendes, ein ineinander greifendes wie Albert Schweitzer es so schön ausdrückt: „Der wahre Verstand fühlt und das wahre Herz denkt“. Dies hat allerdings Konsequenzen. Es braucht nämlich Mut, sich zu seinem Herzen zu bekennen. Schweitzer sagt: “Viel Kälte ist unter den Menschen, weil wir es nicht wagen, uns so herzlich zu geben wie wir sind.“

Albert Schweitzer war sehr mutig, indem er wagte seine Herzlichkeit, seine Herzensliebe zu zeigen, zu leben und auf die Stimme seines Herzens zu hören. So entwickelte er sein Mitgefühl, seine Empathie, denn diese wäre genau die rechte Medizin für unsere heutige menschliche Gleichgültigkeit, wie wir sie in unserer Gesellschaft immer wieder erleben.

Es kommt also entschieden darauf an, seinen Mut zusammen zu nehmen und nach der Stimme seines Herzens leben zu wollen, auf den Entschluss: ja, ich will – so leben! Und solch einen Entschluss nennt Albert Schweitzer eine „geistige Tat“, denn, wie er sagt: „Alle Tatsachen sind Wirkung von geistiger Kraft“. Und in dieser geistigen Kraft liegt unser auch heute noch weitgehend ungenutztes Potenzial.

In der Zwischenzeit hielt Albert Schweitzer also alle seine Sinne offen, betete, meditierte, spielte und hörte Musik, suchte neben seiner alltäglichen Geschäftigkeit auch immer wieder Stunden der Sammlung – für sein inwendiges Leben. „Wo das Denken aufhört, beginnt die Mystik“, sagt er und dort in seinem Innern nahm er immer wieder Kontakt auf, befand sich sozusagen im Zwiegespräch mit Gott, fühlte sich eins, fühlte sich verbunden mit dem Leben, verbunden mit dem Einen Großen und Ganzen. Seine Worte: „Aus der Idee der Verbundenheit mit allen Lebewesen, gelangen wir in ein geistiges Verhältnis zum Universum.“

Und eines Tages, kurz vor seinem 30. Lebensjahr fiel ihm das berühmte Heft der Pariser Missionsgesellschaft in die Hände, in dem er den Aufruf las, dass in Französisch-Äquatorialafrika dringend Missionare gesucht würden. In seiner Autobiographie berichtet er lapidar in drei Sätzen: „‘Menschen, die auf den Wink des Meisters einfach mit: Herr ich mache mich auf den Weg, antworten, dieser bedarf die Kirche.’ Als ich mit dem Lesen fertig war, nahm ich ruhig meine Arbeit vor. Das Suchen hatte ein Ende.“ Schon, aber nun erst kam die noch größere Herausforderung auf ihn zu.

Um es kurz zu fassen – für die Missionsgesellschaft war Albert Schweitzer ein zu liberaler Theologe, so dass sie auf seinen Dienst als Missionar verzichten wollten. Zugegeben, wahrscheinlich hätte ein anderer an seiner Stelle längst aufgegeben, nicht so Albert Schweitzer. Und diese Umstände erst ermöglichten ihm den weisen Entschluss, dann eben nicht als Missionar, sondern als Arzt auf die Missionsstation Lambarene zu gehen.

Erst der Überwindung des Widerstandes und dem daraus folgenden scheinbaren Umweg verdankt es Albert Schweitzer, dass aus dem Theologen der berühmte Urwaldarzt werden konnte und auch dort vor nahezu 100 Jahren den prägenden Begriff für seine Kulturphilosophie finden konnte: Ehrfurcht vor allem Leben. Ehrfurcht vor dem Leben meint, allem Leben mit der höchsten Wertschätzung zu begegnen. Sie ist eine zeitlose Lebenshaltung, das Leitmotiv allen persönlichen und gesellschaftlichen Handelns, für eine Kultur des menschlichen Miteinanders, der verlässliche Kompass, um auf dem Meer unseres Lebens und auch noch auf dem der Zukunft der Menschheit zu segeln.

Hören wir dazu zum Schluss noch einmal Albert Schweitzer selbst: „… Und vertiefst du dich ins Leben, schaust du mit sehenden Augen in das gewaltige belebte Chaos dieses Seins, dann ergreift es dich plötzlich wie ein Schwindel. In allem findest du dich wieder. Der Käfer, der tot am Weg liegt – er war etwas, das lebte, um sein Dasein rang wie du, an der Sonne sich erfreute wie du, Angst und Schmerzen kannte wie du, und nun nichts mehr ist, als verwesende Materie – wie du über kurz oder lang sein wirst. – … Was ist also das Erkennen? … Ehrfurcht vor der Unendlichkeit des Lebens – Aufhebung des Fremdseins – Miterleben, Mitleiden -. Das letzte Ergebnis des Erkennens ist also dasselbe im Grunde, was das Gebot der Liebe uns gebeut. Herz und Vernunft stimmen zusammen, wenn wir wollen und wagen, Menschen zu sein, die die Tiefe der Dinge zu erfassen suchen! … Man redet viel in unserer Zeit vom Aufbau einer neuen Menschheit. Was ist der Aufbau der neuen Menschheit? Nichts anderes als die Menschen zur wahren, eigenen, unverlierbaren, entwickelbaren Sittlichkeit führen. Aber sie kommt nicht dazu, wenn die vielen Einzelnen nicht in sich gehen, aus Blinden Sehende werden und anfangen, das große Gebot zu buchstabieren, das große, einfache Gebot, das da heißt: Ehrfurcht vor dem Leben, in dem mehr hängt als das Gesetz und die Propheten, in dem hängt die ganze Sittlichkeit der Liebe, in ihrem tiefsten und höchsten Sinn, und aus dem sie sich für den Einzelnen und die Menschen immer wieder erneuert.“

(AMEN So sei es!)

Predigt von Miriam M. Böhnert
Leiterin Deutsches Albert-Schweitzer-Zentrum Frankfurt a.M.
Palmsonntag, den 13.04.2014