„Nicht jener Friede des Kettenhundes …“ – zu Schweitzers Alterswerk: Kampf für eine friedvolle Zukunft

Von Gottfried Schüz

„Wenn es auf Sekunden ankommt, ist die Polizei Minuten entfernt“ – so stellt der Familienvater fest und rät: „Gehe nie ohne Schusswaffe aus dem Haus, denn das Böse lauert überall.“ – Dieser Rat richtet sich nicht etwa an einen Leibwächter, der einen von der Mafia gejagten Richter zu schützen hat, sondern an seine minderjährige Tochter. Beide sind Protagonisten eines neuerdings in den USA vertriebenen Kinderbuchs mit dem Titel „My Parents Open Carry.“2 Geworben wird darin für ein offenes Tragen von Schusswaffen von Jedermann als beste Methode, sich Verbrecher vom Hals zu halten. Nach dem Motto „früh übt sich …“ werden auf diese Weise in den Vereinigten Staaten schon abertausende Kinder an Schießständen auf das eingestimmt, was ihre Mitmenschen mit bösen Absichten vermeintlich friedfertig stimmt: die stets griffbereite Schusswaffe.

Auch in der Weltgemeinschaft sind die Vereinigten Staaten nach wie vor bestrebt, sich insbesondere durch die Überlegenheit ihrer militärischen Schlagkraft als führende Weltmacht zu behaupten. Diesem Bestreben können wir Deutschen uns durch die Einbindung in die NATO nicht ganz entziehen. Das Prinzip der Abschreckung des politischen Gegners bleibt selbst in Europa ein leitender Grundsatz, auch wenn es bei uns nicht so weitreichend bis in die Keimzelle der Gesellschaft durchdekliniert wird wie in den USA. Die Abschreckungsmittel sind lediglich subtiler geworden. Im Vorfeld militärischer Optionen stehen beispielsweise Versuche, die Russen mit wirtschaftlichen Kampfmitteln – wie wir aktuell in der Ukrainekrise sehen – in die Knie zu zwingen. Welche Not und welches Leid solche Blockadepolitik gerade für die wirtschaftlich Schwachen nach sich zieht, ist unabsehbar.

Ob solches Vorgehen der Völkerverständigung oder gar einer Sicherung des Friedens dient, muss mit Albert Schweitzer massiv bezweifelt werden. In einem seiner berühmten Friedensappelle, die 1954 über Radio Oslo weltweit ausgestrahlt wurden, stellte er fest: „Die Theorie der Aufrechterhaltung des Friedens durch Abschreckung des Gegners … kann für die heutige Zeit … nicht mehr in Betracht kommen.“

Schweitzer hatte mit dieser Aussage seinerzeit zwar die Abschreckung „vermittelst atomarer Aufrüstung“ im Blick. Die Atomproblematik war es, die ihm in jener Zeit des Kalten Krieges vor allem auf den Nägeln brannte. Nicht nur als Philosoph, sondern auch als Arzt sah er sich von verschiedener Seite genötigt, seine Stimme zu erheben, zusammen mit seinem Freund Albert Einstein, dem zweifachen Nobelpreisträger Linus Pauling, ferner mit dem Arzt und Philosophen Karl Jaspers und dem Mainzer Kernphysiker Karl Bechert. So wurde der über Achtzigjährige zu einem unermüdlichen Aufklärer und Mahner hinsichtlich der Gefahren einer atomaren Verseuchung, wie sie allein durch die zahllosen Versuchsexplosionen weltweit gegeben waren.

In seinen Friedensappellen war es Schweitzer jedoch nicht nur um die Warnung vor den Gefahren eines Atomkriegs und die dringende Notwendigkeit des Verzichts auf Atomwaffen zu tun. Ihm ging es um die grundsätzliche Ächtung jeglicher militärischer Waffengewalt als Mittel der Politik: „Die Not aber, in der wir heute leben, ist die Gefährdung des Friedens …“

„Das Ziel, auf das von jetzt bis in alle Zukunft der Blick gerichtet sein muss, ist, dass völkerentzweiende Fragen nicht mehr durch Kriege entschieden werden können. Die Entscheidung muss friedlich gefunden werden.“

„Ich bekenne mich zu der Überzeugung, dass wir das Problem des Friedens nur dann lösen werden, wenn wir den Krieg aus einem ethischen Grund verwerfen, nämlich weil er uns der Unmenschlichkeit schuldig werden läßt.“

Dieses „wir“ kann dabei nicht elementar genug gedacht werden. Schweitzer meint jeden Einzelnen von uns. Der Friede – so Schweitzers entscheidende These – kann gerade nicht durch Institutionen auf politisch-juristischem Wege nachhaltig gesichert werden. Ein solcher bliebe immer nur ein „Friede des Kettenhundes“ – also ein „Friede“, der auf Drohung und Zwang basiert, indem versucht wird, den politischen Gegner mit militärischen oder wirtschaftlichen Machtmitteln in Schach zu halten.

Wir müssen, so Schweitzer, „menschliche Menschen“ bzw. „tiefere Menschen“ werden, die im Kleinen wie im Großen aus dem ethischen Geist der Humanität heraus denken und handeln.

„Von dem, was in der Gesinnung der Einzelnen und damit der Völker zur Ausbildung gelangt, hängt das Kommen oder das Ausbleiben des Friedens ab.“

Eine ethische Gesinnung kann nicht aufkommen, wenn Mitmenschen und Mitvölkern mit Misstrauen, angehaltenem Atem und Abwehrhaltung begegnet wird.

Das „große Betriebskapital“, ohne das es zwischen einzelnen Menschen und zwischen Völkern kein friedliches Zusammenleben geben kann, ist nach Schweitzer vielmehr eine „Atmosphäre des Vertrauens“. Ein solches Vertrauen, das gerade auch dem Fremden entgegen gebracht wird, kann nicht ohne „den Geist der Ehrfurcht vor dem Leben“ aufkommen, der „auch der Geist des Friedens“ ist.

Quellenangaben:

1 Albert Schweitzer im Brief an Helene Bresslau vom 6.9.1903.

2 Vgl. Laura Hertreiter: Mama, Papa, Peng. Ein US-Kinderbuch erklärt, warum Waffen gut sind. In: Süddeutsche Zeitung vom 7.8.2014, S. 8.