Mit Albert Schweitzer Schule machen

Dr. Gottfried Schüz

„Mit Albert Schweitzer Schule machen“ – hätte zunächst den handfesten Sinn, einmal den Blick auf die vielen Schulen in Deutschland zu richten (über 200), die das Namenspatronat Albert Schweitzers angenommen haben, um zu sehen, was diese daraus machen. Immerhin gibt es eine erkleckliche Anzahl darunter, die alljährlich Projektwochen veranstalten, die um Schweitzers Lebenswerk, vor allem um Lambarene kreisen. Daneben gibt es auch Namensträgerschulen, die mit speziellen Projekten an Albert-Schweitzer-Wettbewerben beteiligt haben, die wir seitens des Deutschen Albert-Schweitzer-Zentrums ausgeschrieben hatten. Sicher lohnt es sich, davon zu berichten. So hatte beispielsweise die Schule für Ganzheitliche Förderung in Schwerin ein Singspiel über den Lebensweg Schweitzers erarbeitet, dessen Entstehung in einem „Probentagebuch“ dokumentiert und im Schweriner Theater aufgeführt. – Dafür wurde sie im letzten Jahr im besagten Wettbewerb mit dem 1. Preis ausgezeichnet. Solches und Vergleichbares könnte sicher hier Interesse finden. Mir geht es aber im Folgenden um ein Anderes, Grundsätzlicheres. Der bekannte Tübinger Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger schrieb einmal in einem Brief an seinen damals 88-jährigen Freund Albert Schweitzer:

„Niemand wird sich dem Drang entziehen können, darüber nachzudenken, wie die großen Aufgaben, die Du Dir gestellt hast – nein! Zu denen der Herr Dich berufen hat, – in einem Sinnzentrum wurzeln: Theolog (lieber ‚Seelsorger‘), Kulturphilosoph, Meister in der Sprache der Musik …, Arzt – nun auch noch mahnender Politiker!! – das alles ist doch innerlich verbunden durch den Willen, die Menschen zu veredeln. Also könnte ich hinzufügen: ‚auch Pädagog!‘ …“.2

Albert Schweitzer, der keinerlei „Pädagogik“ im klassisch-systematischen Sinne entwarf, der sich außer in ein paar Briefen oder Vorträgen an Schulen, die seine Namenspatronat beantragten, zu Erziehung und Bildung kaum geäußert hat, war vielleicht mehr als viele andere, die sich dafür hielten, Pädagoge! im ursprünglichen Sinne.

Schweitzers geistiges Werk ist, so hat es Claus Günzler einmal geschrieben, durch und durch „pädagogisch imprägniert“. Aus seiner Ethik, grundsätzlicher noch: aus seinem „Denken“ lassen sich elementare pädagogische Grundsätze ableiten, die mehr denn je Schule machen sollten und zwar nicht nur in allen pädagogischen Einrichtungen, welcher Art sie auch sein mögen; sie könnten und sollten leitend sein für jegliches erzieherisches Handeln: In ihre geht es um nichts anderes als um eine Einübung gelingenden Lebens in „Selbstvervollkommnung und Hingabe“ …

In diesem Horizont lassen sich bei Schweitzer fünf bedeutsame pädagogische Perspektiven herausheben:

  • Wider die Gedankenlosigkeit: Mut fassen zu elementarem Denken
  • Entgrenzung der Verantwortung: „ … er ist wie du“.
  • Freiheit: In der „Wildnis“ des Lebens den eigenen Weg finden
  • Vertrauen: … nur aus tiefer Humanitätsgesinnung
  • Neue Vorbildlichkeit: Jedem sein Lambarene

Jede dieser Leitperspektiven möchte ich im Folgenden kurz anskizzieren; die pädagogisch-praktischen Umsetzungsmöglichkeiten, die sich daraus ergeben, kann ich im Einzelnen nur andeuten.

Im zweiten Teil soll natürlich Gelegenheit sein, sich darüber auszutauschen und auch Weiterführendes zu diskutieren.

1. Wider die Gedankenlosigkeit oder: Mut fassen zu elementarem Denken

Die heutige Klage über den Erziehungsnotstand und seelisch-geistige Verwahrlosung der Jugend wird hauptsächlich im Werteverfall geortet. Es fehle an einem allgemein gültigen, ja verbindlichen Wertekonsens. Schweitzer stand den sog. Tugenden und Werten skeptisch gegenüber. In das Lamento über Werteverlust hätte er nicht eingestimmt. Die Wurzel des Übels liegt für ihn ganz woanders; es ist viel elementarer: „Wir denken nicht mehr …“3. – „Mit der preisgegebenen Freiheit des Denkens haben wir, es konnte nicht anders sein, den Glauben an die Wahrheit verloren“.4 Oder, wie es an anderer Stelle heißt: „Ethisch werden heißt wahrhaft denkend werden.“5

Die Wurzel der gesellschaftlich-kulturellen Übel ist Schweitzer zufolge vor allem in der Gedankenlosigkeit zu suchen, mit der die Jugend und nicht zuletzt auch wir Erwachsenen etwa Lebensstile und Konsumgewohnheiten, Denk- und Handlungsmuster, wie sie uns in der realen Welt oder auch nur imaginierten Wirklichkeit der Medienwelten offeriert werden, unreflektiert übernehmen.

Nicht ein Mangel an Werten ist zu beklagen, sondern mangelnde Besinnung auf die eigentlichen Grundlagen unseres Menschseins. Was aber könnte gerade auch junge Menschen dazu nötigen, den Weg des gedankenlosen Dahinlebens und des egoistischen Sich-selbst-ausleben-Wollens zu verlassen?

Für Schule und Erziehung gibt es nur einen Weg:

Das Selbstverständliche und Gewohnte wieder fragwürdig werden zu lassen, über Sinn und Zweck eigenen Tuns und Lassen ganz elementar zur kritischen Besinnung zu kommen, über uns selbst und unser Verhältnis zu anderem Leben.

Oder als Botschaft nicht nur an junge Menschen, sondern an alle gerichtet: Wir müssen wieder denkend werden. Das war ja schon der entscheidende Schlachtruf Immanuel Kants: sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.

Bei aller Hochschätzung der Aufklärungsidee besteht jedoch ein grundlegender Unterschied bei Schweitzer: „Denken“ ist für ihn nicht – wie bei Kant – eine rein intellektuelle Betätigung, die sich betontermaßen von den sinnlichen Wahrnehmungen und der Gefühlswelt absetzt. Im Gegenteil, und das ist für das Verständnis Schweitzers entscheidend: Es beruht auf der tiefen Einsicht, dass „das Herz mitzureden hat mit dem Verstand!“6 Mit Schweitzer noch deutlicher gesagt:

„Das Gefühl, das sich dem Denken entzieht, verfehlt seine Bestimmung. Das Denken, das meint, am Gefühl vorbeigehen zu können, kommt von dem Wege ab, der in die Tiefe führt. Wo das Gefühl in das Denken hinaufreicht und das Denken in das Gefühl hinabreicht, ist unser ganzes Wesen an dem Gestalten der Überzeugungen, die wir in uns tragen, beteiligt.“7

Bleibt die entscheidende Frage: Wie ein solches Denkend-werden aus der Einheit von Gefühl und Verstand bei jungen Menschen in Gang bringen?

Sicher nicht über ein bloßes „Hören von der Weisheit Lehren“, wie es Wilhelm Busch in seinem Max und Moritz treffend charakterisiert; – denn spätestens seit diesen beiden „Muster“-Knaben machen wir uns über den Wirkungsgrad moralischer Belehrungen keinerlei Illusion mehr.

Das Leben selbst ist es, was „uns“ zur Besinnung bringt, genauer: Konflikte, die sich aus widerstreitenden Lebensansprüchen unausweichlich ergeben. Schweitzer selbst bietet mit seiner autobiografischen Schrift „Aus meiner Kindheit und Jugendzeit“ mehrere paradigmatische Beispiele.

Sie kennen alle die bekannte Anekdote vom Vögelschießen mit seinem Kameraden Heinrich Brätsch.

Sollte er dem ihm nahestehenden Kameraden Heinrich zu Gefallen sein oder das Lebensrecht von Lebewesen achten, die eigentlich so zahllos wie belanglos scheinen? Diese Geschichte schon für Grundschulkinder hervorragend geeignet, Denken zu evozieren, empathische Fähigkeiten zu entwickeln, das Verantwortungsbewusstsein zu schärfen. Übrigens hat der Entwicklungspsychologe Lawrence Kohlberg solche Dilemma-Geschichten zum werteezieherischen Prinzip erhoben: Es geht nicht darum, Kindern vorgegebene „Werte“ beizubringen, sondern mit ihnen Handlungsalternativen zu diskutieren, der mögliche Folgen zu reflektieren und diese bewerten zu lernen.

Ferner kommt es darauf an, so früh und so oft wie möglich Primärbegegnungen mit anderem Leben in seiner Vielfalt ins Zentrum zu stellen. Denn nur über die unmittelbare Betroffenheit durch andere Lebensbedürfnisse und Daseinsrechte, mit denen sich junge Menschen mitfühlend, mitleidend, miterlebend auseinandersetzen müssen, kann sich ihre Empathiefähigkeit und ein Gefühl der Verbundenheit mit dem Schicksal anderen Lebens entwickeln. Eine multikulturell und pluralistisch geprägte moderne Lebens- und Schulwelt bietet hierfür ein früher kaum gekanntes Begegnungsfeld.

„Gehst du mit Kindern in die Natur, laß sie nicht gedankenlos Blumen brechen, schon in der ersten Stunde, die dann in den heißen Händchen welken und die sie dann, weil sie ihnen unbequem werden, achtlos wegwerfen, sondern wage, sie von den ersten Jahren an zur Ehrfurcht vor dem Leben zu erziehen! Mache dich meinetwegen vor gedankenlosen Menschen lächerlich, die über solche Marotten spotten. Aber die Kinder werden von dem Schauer des Geheimnisses ergriffen werden und dir einmal danken, dass du die große Melodie der Ehrfurcht vor dem Leben in ihnen geweckt hast.“8

Für ein Denken zu sensibilisieren, das aus dem Erleben entspringt und ein Erleben, das ins Denken führt. Und dieses Denken hat einen entscheidenden „Gegenstand“: Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit gelingenden Lebens. Diese Frage rückt ein Doppeltes ins Bewusstsein: Mein Verhältnis zu anderem Leben, das mich umgibt, das in meinen Bereich tritt aber auch mein Verhältnis zu mir selbst. Ersteres fordert meine helfende Hingabe an anderes Leben heraus, letzteres die Wahrhaftigkeit im Umgang mit mir selbst und meine Selbstvervollkommnung. Und damit ist schon das ganze pädagogische Programm umrissen, das sich aus seiner Ethik ergibt.

Aber ein solches Denkend-werden hat Konsequenzen und führt uns vor die Frage nach der Verantwortung, die gerade auch jungen Menschen überhaupt erst mit dem Nachdenken aufgeht.

2. Entgrenzung der Verantwortung oder: „ … er ist wie du“.9

Mit einer zweiten pädagogischen Fehleinschätzung würde Schweitzer aufräumen: Der vermeintlichen „Verantwortungslosigkeit“ der Jugend. Kinder und Jugendliche handeln nicht weniger „verantwortlich“. Das Problem ist, dass sie – und nicht weniger wir Erwachsenen – die Grenze für das, wofür sie glauben verantwortlich oder nicht mehr verantwortlich zu sein, zumeist zu eng ziehen; geboren aus Gewohnheit, Gedankenlosigkeit oder rein willkürlichen Setzungen.

Von Schweitzer kennen wir die Geschichte, wie er einen Eingeborenen aufforderte, ihm zu helfen einen anderen Schwarzen, der in den Ogowe gefallen war, vor dem Ertrinken zu retten. Er bekam zur Antwort: Dem kann ich nicht helfen, der gehört nicht zu meinem Stamm.

So auch viele Jugendliche heute: dem, der in der eigenen Clique das Sagen hat, werden sie alles zu Gefallen tun und ihm gegenüber keine Verantwortung schuldig bleiben. Hier wird ‚Ehrfurcht pur‘ wirksam. Aber kommt einer neu in die Klasse, heißt es: Der kann uns gestohlen bleiben, der gehört nicht zu uns.

Ethisch Denken und Handeln heißt, den Umkreis des Lebens, für das wir uns verantwortlich fühlen immer weiter zu ziehen, bis wir die Erfahrung der Verbundenheit mit allem Leben machen, dass letztlich alles Leben in unsere Verantwortung einbezogen ist:

Damit aber ist der Einzelne mit einer Verantwortung konfrontiert, die an keiner Grenze halt macht. „Ethik ist“, so Schweitzer, die „ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt.“10

Daher ist es für die Erzieher wichtig, dass sie Kinder und Jugendliche auch Verantwortung übernehmen lassen, für ihr eigenes Tun und für den Anderen; dass sie Initiativen nicht ersticken, dass es nichts gibt, was sie grundsätzlich „nichts angeht“.

Daher muss Erziehung dem Kind oder Jugendlichen einräumen selbst zu entscheiden, wie weit es bzw. er mit seiner Hingabe an anderes Leben geht. Wie oft werden Kinder und Jugendliche ‚zurückgepfiffen’, weil sie ihrer Gewissensstimme folgend gesellschaftliche Grenzen des Üblichen und Schicklichen überschreiten!

Solcher Pädagogik geht es ums Ganze: sie bildet den Grund und Ausblick zu einer „grenzenlosen“ Verantwortung, die sich der Leitidee der Ehrfurcht vor dem Leben verpflichtet weiß. Die Schule muss mit der gleichen Entschiedenheit des kritischen Fragens der Jugend vor Augen führen, „dass sie eine Aufgabe zu erfüllen hat in der Welt“11 – eine Aufgabe, die nicht an der Grenze der eigenen Lebenswelt endet.

3. Freiheit oder: In der „Wildnis“ des Lebens den eigenen Weg finden

Mit einer Ethik, die mit der Freiheit und Eigenbestimmtheit des Einzelnen ernst macht, ist eine ungeheuere Zumutung verbunden: Sie induziert in uns eine Gesinnung, die „nicht kalt nach ein für allemal festgelegten Prinzipien“12 entscheidet, sondern nach Maßgabe der Ehrfurcht gegenüber allen Mitgeschöpfen stets neu um eine wahre Menschlichkeit ringen muss.13 Dies ist alles andere als bequem. In einer Welt, in der widerstreitende Lebensrechte und -ansprüche auf Schritt und Tritt miteinander kollidieren, ist der Einzelne gezwungen, von Situation zu Situation immer neu zu entscheiden, wo für ihn die Grenze des Nicht-mehr-fördern-Könnens oder des Schädigen-müssens von Leben um der Selbsterhaltung oder der Erhaltung anderen Lebens willen liegt. „Nur subjektive Entscheide kann der Mensch in den ethischen Konflikten treffen“14 heißt es daher für Schweitzer, was bedeutet, dass es keine objektiven, staatlich sanktionierten Entscheidungsmuster als Folie für ein Handeln im Sinne der Ehrfurchtsethik geben kann; die Entscheidungslast und Verantwortung des Einzelnen ist nicht delegierbar.

Der Urquell ethischer Energie und das Heimatrecht wahrer Humanität ist einzig und allein in der Freiheit und Selbständigkeit des Einzelnen zu suchen, die – wie bereits ausgeführt – im eigenen Denken fundiert ist.

Daher darf die erzieherische Bemühung nicht auf Disziplinieren und fraglose Anpassung an Autoritäten oder vorgegebene ‚Werte’ gerichtet sein. Sie muss sich in erster Linie verstehen als Einübung „geistiger Freiheit“ und „innerer Selbständigkeit“.15

Diese huldigt weder einem sozial blinden Libertinismus und Individualismus noch entlässt sie den jungen Menschen in die Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit. Im Gegenteil: sie weckt, wo immer es geht, ihre kritische Vernunft in Auseinandersetzung mit ihrer Lebenswelt und mit sich selbst. Damit ist die Zumutung verbunden, Konflikte und widerstreitende Lebensinteressen nicht abzutun oder autoritativ zu glätten. Junge Menschen sollen frühestmöglich erfahren, dass Konflikte und Krisen konstitutiver Bestandteil des Lebens sind, und sie zunehmend Freiräume erhalten, am Entscheiden-müssen von Fall zu Fall zu partizipieren und für ihr Entscheiden und Tun verantwortlich einzustehen.16

Ethik ist für Schweitzer kein Park, sondern Wildnis. Sie schöpft nicht aus Regeln, Normen oder konkreten Ge- und Verboten. Er propagiert keine „Pflichtenethik“ und offeriert keine Tugendkataloge. Damit entlässt er junge Menschen keineswegs in die Orientierungslosigkeit: Die Leitidee der Ehrfurcht vor dem Leben, die Frage, was kann ich tun, um anderes Leben zu erhalten oder dessen Schädigung ohne Not zu vermeiden bildet die entscheidende Kompassnadel. Hier erweist sich Schweitzer als ein Pädagoge der Freiheit: Jeder muss selbst entscheiden, was er tut oder lässt. Keine Autorität oder Institution kann bzw. soll ihm das abnehmen. Wir müssen dem anderen zugestehen, dass es keine Einheitsentscheidung für alle vergleichbare Situationen geben kann und zugleich sein Gewissen schärfen, dass jeder dazu beitragen kann, Leid und Schmerz zu lindern bzw. Lebensfreude Anderer zu fördern. Ethisches Denken und Handeln lässt sich nicht ‚von oben’ verordnen, sondern erwächst aus „innerlicher Selbstbesinnung“17 des Einzelnen, der – wie vorhin schon dargelegt – aus innerer Notwendigkeit handelt, die in der Erfahrung der Verbundenheit mit allem Leben verankert ist.

4. Vertrauen oder: … nur aus „tiefer Humanitätsgesinnung“18

Der Erzieher muss das Wagnis eingehen, den jungen Menschen – im wohlverantworteten Sinne – Freiheit zuzugestehen, dass sie lernen, mit ihrer Freiheit verantwortlich umzugehen. Dies erfordert schließlich einen grundlegenden Gesinnungs- und Beziehungswandel im pädagogischen Verhältnis. Eine Schule, die dem jungen Menschen mit autoritärem Führungsanspruch, verbunden mit Kontrollund Sanktionssystemen, begegnet, wird stets vom Gift des Misstrauens infiziert bleiben, und nie zu wahrer Humanität gelangen können. Im fehlenden Vertrauen erblickt Schweitzer eine der Hauptursachen der Inhumanität, und zwar nicht nur im Raum der Schule, sondern auf allen gesellschaftlichen Ebenen bis hin zur Völkerverständigung, die ohne ein gegenseitiges Vertrauen keine Basis für den Weltfrieden finden kann.19 Wahre Menschlichkeit kann daher nur dann in die Schulen als Keimzellen für eine bessere Welt Einzug halten, wenn sie auf allen Ebenen „den Menschen dem Menschen wieder vertrauenswürdig macht“.20 Vertrauen in die schöpferischen, lebensbejahenden Kräfte junger Menschen, Stärkung ihres Jugend-Idealismus, den die Erwachsenenwelt nur allzu schnell untergräbt, war Schweitzer stets ein zentrales Anliegen.21

Dieses Vertrauen wird auch dort immer neu in junge Menschen gesetzt werden müssen, wo es enttäuscht wird. Wir müssen das, was wir in der Erziehung erreichen wollen, nämlich eigenverantwortliches Entscheiden- und Handeln-können, stets aufs Neue in Kindern und Jugendlichen im Sinne positiver Erwartung voraussetzen. Ohne solchen Vertrauensvorschuss verspielt die Schule für die jungen Menschen jede lebensbejahende Zukunftsperspektive.

5. Neue Vorbildlichkeit oder: Jedem sein Lambarene

Schweitzer war zu Lebzeiten Jung und Alt zweifellos ein großes Vorbild. Aber die Art und Weise, wie man sich in weiten Kreisen seiner als „Vorbild“ bemächtigte, hatte er heftig zurückgewiesen: Er verstand sich gerade nicht als der moralische Exot, der bewundert sein wollte. Humanitäre Heldenverehrung auf dem Sockel der Ehrbarkeit mit dem Prädikat „besonders wertvoll“ war ihm zuwider.

In einem Brief an Rudolf Grabs, einem seiner Biographen, bedankt sich Schweitzer für die Wertschätzung seiner Arbeit in Lambarene; dann fügt er an:

„Holla, nun kommt aber ein Tadel. In einer Arbeit von Ihnen lese ich beim Titel den Zusatz ‚Vorbild einer ganzen Welt’ … Das ist etwas das Sie nicht einmal denken, 8 geschweige denn einem Titel beifügen dürfen! Dafür bin ich sehr empfindlich. Also bei einer Neuausgabe diese Worte unter den Tisch fallen lassen. Gelt. Sie tun es.“22

Zu seiner Autobiografie „Aus meiner Kindheit und Jugendzeit“ vermerkte er, dass er ganz bewusst in pädagogischer Absicht den kindlichen Horizont erreichen wollte und dass – wie er es nannte: „für Kinder ein moralischer Schluss dran gehört“.23

Dort heißt es u.a.: „Wachset in eure Ideale hinein, dass das Leben sie euch nicht nehmen kann.“24

Die Betonnung liegt auf „eure“ Ideale! Er betonte immer wieder, dass sich die humanitären Ideale eben nicht einfach 1:1 von einer Generation auf die nachfolgende übertragen lassen. Sie bleiben „toter Besitz“, wenn sie nicht in Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstsein und der eigenen Lebenswelt in neuer Lebendigkeit angeeignet und hervorgebracht werden.25

Darum kann für die Jugend einzig seine kritische Haltung Vorbild sein, mit der Schweitzer sich mit der Welt und dem Leben im Ganzen auseinandersetzte und im „Anderssein als die Welt“ seinen Weg zur wahren Humanität konsequent verfolgte. Schweitzer sucht also nicht die Jugend an sich zu binden und solchermaßen unmündig zu halten; im Gegenteil: seine Pädagogik ist zutiefst emanzipatorisch und hochaktuell.

Der zitierte Satz meint aber auch: lasst euch nicht von den Verhältnissen wie sie sind korrumpieren. Junge Menschen erliegen leicht der Normativität des Faktischen. Das gilt für sie selbst, die eigene Selbsteinschätzung aber auch für die Verhältnisse: Ich leide unter Leistungsdruck, Zukunftspessimismus, gefühllosem Umgang miteinander, Gewalt … also muss ich mich anpassen und mich mit gleichen Mitteln durchsetzen. Ideale einer humanen Welt haben für sie vor den nackten Realitäten keinen Bestand, also werden sie allzu leicht über Bord geworfen.

Erziehung im Geist der Ehrfurchtsethik weckt den kritischen Sinn dafür, Missstände, lebensfeindliche und lebenshemmende Verhältnisse nicht als unveränderlich hinzunehmen, sondern als Aufgabe wahrzunehmen, sie ins Lebensdienliche umzugestalten, wo immer es möglich ist. Sie ist bestrebt, die Humanität der Jugend tiefer zu verwurzeln, und jeden Einzelnen nach Maßgabe seiner selbstbestimmten Möglichkeiten zu ermutigen, „sein Lambarene“ zu finden.

  1. Vortrag, gehalten im Rahmen des Symposiums „Ehrfurcht vor dem Leben“ 20.-22.5.2011, Ev. Akademie Hofgeismar.
  2. Brief vom 17.7.1963 Zit. n. Albert Schweitzer: Theologischer und philosophischer Briefwechsel, hrsg. v. Werner Zager, München 2006, S. 726.
  3. Ebd., S. 56.
  4. Ebd., S. 57.
  5. Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie. Band I: Verfall und Wiederaufbau der Kultur, Band II: Kultur und Ethik, München 2007, S. 306.
  6. Schweitzer, Albert: Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze. Werke aus dem Nachlaß, hrsg. v. Claus Günzler u.a., München 2003, S. 214. 9
  7. Schweitzer, Albert: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III. Erster und zweiter Teil, hrsg. v. Claus Günzler u. Johann Zürcher. München 1999, S. 28.
  8. Schweitzer: Was sollen wir tun?, S. 48.
  9. Schweitzer, Albert: Aus meiner Kindheit- und Jugendzeit, S. 53.
  10. Ebd., S. 309.
  11. Ebd., S. 216.
  12. Schweitzer: Kulturphilosophie, S. 325.
  13. Vgl. ebd., S. 317; Schweitzer, Albert: Wir Epigonen. Kultur und Kulturstaat, Werke aus dem Nachlaß, hrsg. v. U. Körtner u. J. Zürcher, München 2005, S. 160.
  14. Schweitzer: Kulturphilosophie, S. 316.
  15. Schweitzer: Kulturphilosophie, S. 30; vgl. ders.: Wir Epigonen, S. 40, 42, 178f, 185ff.
  16. Zur näheren philosophisch-anthropologischen Erschließung dieses Zusammenhangs vgl. hierzu vor allem Wisser, Richard: Kein Mensch ist einerlei. Spektrum und Aspekte „kritisch-krisischer Anthropologie“. Würzburg 1979.
  17. Schweitzer: Wir Epigonen, S. 115.
  18. Vgl. Schweitzer, Albert: Menschlichkeit und Friede. Kleine philosophisch-ethische Texte, Berlin 1991, S. 189.
  19. Schweitzer: Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze, S. 222. Zur anthropologischen Bedeutsamkeit des Vertrauens vgl. Schüz, Gottfried: Lebensganzheit und Wesensoffenheit des Menschen. Otto Friedrich Bollnows hermeneutische Anthropologie. Würzburg 2001, S. 164-191.
  20. Ebd., S. 214.
  21. Vgl. Schweitzer, Albert: Aus meiner Kindheit und Jugendzeit, S. 57f.
  22. Schweitzer, Albert: Theologischer u. philosophischer Briefwechsel, S. 240f.
  23. Brief an Oskar Pfister, in: Hans Walter Bähr (Hrsg.): Albert Schweitzer – Leben, Werk und Denken 1905 – 1965, mitgeteilt in seinen Briefen, S. 68.
  24. Schweitzer, Albert: Aus meiner Kindheit- und Jugendzeit, S. 59.
  25. Schweitzer, Albert: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III. Werke aus dem Nachlaß, hrsg. v. Claus Günzler u. Johann Zürcher, dritter und vierter Teil, München 2000, S. 225f.