Im Namen der Menschlichkeit dem Nationalismus widerstehen – „Wir Epigonen“ – Wie Albert Schweitzer über den Nationalismus dachte

Von Klaus Stoevesandt

Epigonen – Nachahmer – Trittbrettfahrer, die neuen Herausforderungen der Zeit wollen sie mit alten Handlungskonzepten lösen im Einklang mit einer spontan empfundenen Volksmeinung. Dreißig Jahre nach dem Abbau des Eisernen Vorhanges, der ganz Europa zerschnitt, hatte uns dessen Öffnung dem Traum eines freien Europa der offenen Grenzen näher gebracht. Jedoch nur fünfundsiebzig Jahre nach dem schrecklichsten Krieg des zwanzigsten Jahrhunderts, der ganz Europa unsägliche Leiden und Zerstörungen aufzwang, müssen wir wieder subversive und mörderische Aktivitäten erleben: NSU (Nationalsozialistischer Untergrund), PEGIDA (Patrioten Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes), Neonazis oder Reichsbürger. Wieder einmal Bürger, die unterscheiden wollen, wer dazu gehört und welche Menschen aus dem „Vaterland“ ausgewiesen oder vertrieben werden müssten.

Im französischen Gabun hatte Albert Schweitzer nur zwei Jahre vor dem 1. Weltkrieg das heute noch bestehende Hospital Lambarene gegründet. Schon im Oktober 1915 beschrieb er seine Beobachtungen in der Schrift „Wir Epigonen“, an der er in Lambarene begonnen hatte zu arbeiten: Das Wesen des Nationalismus bestehe in einer krankhaften Deutung und Verarbeitung von Tatsachen des politischen Lebens aufgrund von Größen- und Verfolgungsideen, die in abnormer Einbildungskraft vorhanden seien. Sofort nach Kriegsbeginn 1914 wurde er so selbst Opfer solcher Vorstellungen. Man verbot ihm damals seine Arbeit in Lambarene fortzuführen, weil er ja Bürger des feindlichen deutschen Reiches sei. Drei Jahre lang durfte das Ehepaar Schweitzer allerdings noch unter mehr oder weniger strengen Auflagen in Lambarene verbleiben, bis seine Internierung in Lagern innerhalb von Frankreich angeordnet und durchgeführt wurde. So gehindert an seinen ärztlichen Aufgaben, fand Albert Schweitzer unfreiwillig Zeit, von Lamberene aus das katastrophale Kriegsgeschehen in Europa zu beobachten und zu bewerten. Erst in unserem 21. Jahrhundert sind seine Gedanken aus dieser Schrift in den „Werken aus dem Nachlass“ gedruckt und veröffentlicht worden. Wenn man heute in dieser seiner Schrift an vielen Stellen die extreme Beeinflussbarkeit der Menschen, wie er sie damals feststellte, ihre Unfähigkeit eigenständig zu denken erwähnt findet, so müssen wir hierin wohl auch einen Warnruf bis in unsere Zeit hinein erkennen.
Schweitzer beschreibt diese Beeinflussbarkeit in den folgenden Zeilen in einer Art, die man in seinem Sinne eine Pathologie des Nationalismus nennen könnte. Als Merkmale zählt er auf:
• dass sich Gesinnungen, Worte und Taten immer negativer entwickeln würden,
• dass ein Zirkel zu sinnlosen Handlungen und Gewaltakten entstehe,
• dass in dem Maße, wie andere Ideale (z. B. Menschlichkeit) verkümmerten, sich der Nationalismus zum Ideal der Ideale erhebe,
• dass eigene nationale Anschauungen tabuisiert würden und so die Gestalt einer Art Volksreligion annähmen, dass Vernunft und Moral nicht in diese „heiligen Gefühle“ hineinreden dürften
Jedoch dort, wo Vernunft und Moral zum Wesen der Kultur eines Landes, einer Nation gehören, ist darauf zu hoffen, dass es genug Menschen, genug innere Kräfte gibt, die solchen Entwicklungen entgegentreten und diese verhindern könnten.

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