Hundert Jahre Menschlichkeit

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Hundert Jahre Menschlichkeit

Vortrag von Dr.med. Stefan Walther
Strasbourg, 26. Sep. 2013

« Komm, jetzt gehen wir in den Rebberg und schießen Vögel » Dieser Vorschlag war mir schrecklich, aber ich wagte nicht zu widersprechen, aus Angst, er könnte mich auslachen. … tat ich, unter furchtbaren Gewissensbissen, dasselbe, mir fest gelobend, danebenzuschießen. In demselben Augenblick fingen die Glocken der Kirche an zu läuten. … Für mich war es eine Stimme aus dem Himmel. Ich warf die Schleuder weg, scheuchte die Vögel auf, und floh nach Hause. …

Und immer wieder, wenn die Glocken der Passionszeit in Frühlingssonnenschein und kahle Bäume hinausklingen, denke ich ergriffen und dankbar daran, wie sie mir damals das Gebot « Du sollst nicht töten » ins Herz geläutet haben.

Es kam mir so unfasslich vor, dass ich, wo ich so viele Menschen um mich herum mit Leid und Sorge ringen sah, ein glückliches Leben führen durfte. Schon auf der Schule hatte es mich bewegt, wenn ich Einblick in traurige Familienverhältnisse von Klassenkameraden gewann, und die geradezu idealen, in denen wir Kinder des Pfarrhauses zu Günsbach lebten, damit verglich.

Auf der Universität musste ich in meinem Glücke, studieren zu dürfen und in Wissenschaft und Kunst etwas leisten zu können, immer an die denken, denen materielle Umstände oder die Gesundheit solches nicht erlaubten.

An einem strahlenden Sommermorgen, als ich – es war im Jahre 1896 – in Pfingstferien zu Günsbach erwachte, überfiel mich der Gedanke, dass ich dieses Glück nicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen dürfe, sondern etwas dafür geben müsse. Indem ich mich mit ihm auseinandersetzte, wurde ich, bevor ich aufstand, in ruhigem Überlegen, mit mir selber dahin eins, dass ich mich bis zu meinem 30. Lebensjahre für berechtigt halten wollte, der Wissenschaft und der Kunst zu leben, um mich von da an einem unmittelbaren menschlichen Dienen zu weihen. Gar viel hatte mich beschäftigt, welche Bedeutung dem Worte Jesu „Wer sein Leben will behalten, der wird es verlieren, und wer sein Leben verliert, um meinet- und des Evangeliums willen, der wird es behalten“, für mich zukomme. Jetzt war die Bedeutung gefunden. Zu dem äußeren Glücke besaß ich nun das innerliche.

Monatsheft der Pariser Mission (1904) : „Was der Kongomission not tut“ … Menschen, die auf den Wink des Meisters einfach mit: Herr, ich mache mich auf den Weg, antworten, dieser bedarf der Kirche.

In den vielen Diskussionen, die ich damals mit als christlich geltenden Leuten durchzufechten hatte, berührte es mich merkwürdig, wie fern ihnen der Gedanke lag, dass das Streben, der von Jesus verkündeten Liebe zu dienen, einen Menschen aus der Bahn werfen könne, obwohl sie es im Neuen Testament lasen und es dort ganz in Ordnung fanden.

Arzt wollte ich werden, um ohne irgendein Reden wirken zu können. … Das neue Tun aber konnte ich mir nicht als ein Reden von der Religion der Liebe, sondern nur als ein reines Verwirklichen derselben vorstellen.

Ganz allgemein gesagt ist Kultur Fortschritt, materieller und geistiger Fortschritt der Einzelnen wie der Kollektive.

Die Kultur ist ihrem Wesen nach also zwiefach. Sie verwirklicht sich in der Herrschaft der Vernunft über die Naturkräfte und in der Herrschaft der Vernunft über die menschlichen Gesinnungen

So sehr mich das Problem des Elends in der Welt beschäftigte, so verlor ich mich doch nie in Grübeln darüber, sondern hielt mich an den Gedanken, dass jedem von uns verliehen sei, etwas von diesem Elend zum Aufhören zu bringen.

Zuletzt ist alles, was wir den Völkern der Kolonien Gutes erweisen, nicht Wohltat, sondern Sühne für das viele Leid, das wir Weiße von dem Tage an, da unsere Schiffe den Weg zu ihren Gestaden fanden, über sie gebracht haben.