Gedanken zur Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben

Von Hartmut Kegler

„Albert Schweitzer hat der Welt ein einzigartiges Werk hinterlassen, das leider immer weniger bekannt ist, vor allem bei der nachwachsenden Generation. Die von ihm entwickelte Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben geht jeder­mann unmittelbar an und ist aktueller als je zuvor. Sie schlägt Brücken zwischen den Menschen unterschiedlicher Interessen, Religionen und Herkunft. In einer immer komplexer werdenden Welt, in der Werte-Unsicherheit und Orientierungslosigkeit herrschen, stiftet sie Mensch­lichkeit und friedliches Miteinander – lokal und global.“ Dr. Gottfried Schüz

In ihrem Buch „Zivilisiert den Kapitalismus. Grenzen der Freiheit“ schreibt Marion Gräfin Dönhoff: „Gerade in der heutigen Welt mit ihren vielfältigen Ver­suchungen und Reizangeboten wächst das Verlangen nach moralischer Grund­orientierung und einem verbindlichen Wertesystem. Vieles von dem, worunter wir leiden: zunehmende Kriminalität, Brutalisierung des Alltags, Korruption bis in die höchsten Stellen, hängt damit zusammen, dass es keine ethischen Normen und keine moralischen Barrieren gibt.“

Moralische Barrieren sind tatsächlich seltener geworden. Doch ethische Normen be­stehen sehr wohl, sind aber nur wenig bekannt. Sie sind vergessen oder verschüttet unter dem geistigen Müll, den unsere Gesellschaft täglich erzeugt. Zu diesen Normen zählt die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, die von Albert Schweitzer (1875-1965) begründet und vorgelebt worden ist. Vertieft man sich in diese Ethik, so erscheint sie manchem als „unzeitgemäß“ ̶ angesichts einer so schlimmen Lage in vielen Ländern der Welt. Da herrschen Armut und Hunger, Ausbeutung und Ver­folgung, Krieg und Terror, werden Menschenrechte mit Füßen getreten, wird die Natur zerstört und die Umwelt belastet. Aber über Ethik wird immer weniger gesprochen, geschrieben und gelehrt.

Claus Günzler antwortet darauf: „Ethik ist stets unzeitgemäß, sie stellt Sollforderungen auf, die über die Ist-Zustände hinausführen.“

Die Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben ist eine Art elementare Wahrheit. Sie geht von der Feststellung aus: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Demnach bedeutet gut sein: „Leben erhalten, Leben fördern, ent­wickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen.“ Die Menschheit braucht sie, um sich von ihr leiten zu lassen. Sie wirkt unabhängig davon, ob ich gläubig bin oder nicht und ist an keine Religion gebunden. Doch sie ist durch ihre Innerlichkeit dem Christentum wesensverwandt. In ihr verbinden sich Denken und Fühlen. Sie erwartet nicht nur Nächstenliebe gegenüber den Menschen, sondern ebenso Mit­gefühl mit den Tieren und Pflanzen. Ihr ist alles Leben heilig und sie duldet keine Wertunterschiede. „Wo ich irgendwelches Leben schädige“, sagt Albert Schweitzer, „muss ich mir darüber klar sein, ob es notwendig ist.“ Als Beispiel nimmt er einen Bauern in Schutz, der eine Wiese mäht, um seine Kühe füttern zu können, was notwendig ist. Wenn aber jemand beim Spaziergang ein Blatt abreißt oder einen Käfer zertritt, handelt er dieser Ethik zuwider. Leben aus Gedanken­losigkeit, Hass oder Habgier zu zerstören, ist böse und verwerflich.

Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist das Grundprinzip des Sittlichen. So wie die DNA der genetische Code in der Biologie, so könnte die Ehrfurcht vor dem Leben der ethische Code in der menschlichen Gesellschaft sein. Würden sich mehr Menschen nach ihr richten, gäbe es weniger Probleme auf unserer Erde.

Ehrfurcht vor dem Leben beginnt mit dem eigenen Leben und ermahnt den Menschen zu gesunder Lebensweise. Das bedeutet gesunde Ernährung, Aus­gleich von geistiger und körperlicher Betätigung und Vermeidung von Drogen und Giften.

Im Blick auf die gesamte Menschheit verbietet die Ehrfurcht vor dem Leben die Anwendung von Gewalt wie sie in Krieg und Terror, aber auch in Rassenwahn und in religiösem oder politischem Fanatismus zum Ausdruck kommt. Der amerikanische Bürger- und Menschenrechtler Martin Luther King rief aus: „Es gibt in dieser Welt keine Wahl mehr zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit. Entweder Gewaltlosigkeit oder Nichtexistenz!“ Aus eigenem Erleben warnte zudem Alexander Solschenizin: „Jeder, der Gewalt als seine Methode proklamiert, muss unvermeidlich die Lüge zu seinem Prinzip wählen.“ Ehrfurcht vor dem Leben verlangt grundsätzlich Wahrhaftigkeit und Friedfertigkeit. Sie gebietet ebenso, inhumanen Ideologien und Verhaltensweisen entschieden entgegen zu treten. Des­halb ist sie gegen die Kriegsdrohung und -rüstung und ächtet Massenvernichtungs­waffen.

Um Frieden zu stiften und zu erhalten, verlangt die Ehrfurcht vor dem Leben aber ebenso Gerechtigkeit unter den Menschen. „Kein Weltfriede ohne Weltgerechtig­keit“, mahnte Friedrich Schorlemmer. Unmenschlich und ungerecht ist es, wenn Menschen wegen ihres Geschlechtes, ihres Glaubens, ihrer Hautfarbe, ihrer Her­kunft oder weil sie behindert sind, benachteiligt oder sogar verfolgt werden. Ungerecht ist es, wenn die einen überreich und die anderen bettelarm sind; wenn die einen in der Arbeit überlastet und die anderen arbeitslos sind; wenn die einen Lebensmittel verschwenden und die anderen hungern müssen; wenn die einen Wasser vergeuden, während andere verdursten; wenn die einen hoch gebildet sind und die anderen weder lesen noch schreiben lernen; ungerecht und unmenschlich ist es, wenn Menschen krank werden und früher sterben müssen, weil sie arm sind. Unrecht und unmenschlich ist, wenn Menschen, die vor Krieg, Terror, Hunger, Verfolgung oder Armut flüchten, zurückgewiesen werden.

Die Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben gebietet eine Lebensweise, die an die Zukunft der Menschheit und allen Lebens auf der Erde denkt. Sie fordert deshalb ein Denken und Handeln für Nachhaltigkeit.

Dies bedeutet vor allem, dass wir unsere Lebensgrundlagen pflegen und nicht zer­stören. Es kann nicht ökonomisch richtig sein, was ökologisch falsch ist. Der Mensch muss wie alle Lebewesen atmen, trinken und essen. Also müssen wir die Luft und das Trinkwasser rein halten. Das bedeutet, weniger Abgase in die Luft zu blasen und unsere Wälder zu erhalten, die uns den lebensnotwendigen Sauerstoff liefern. Ebenso heißt das, keine Giftstoffe in die Flüsse und Seen zu bringen. Auch unser Grundwasser, aus dem wir das Trinkwasser gewinnen, ist frei von Schad­stoffen zu halten. So handeln im Geist der Ehrfurcht vor dem Leben auch alle diejenigen, die für den Klimaschutz und die Reinhaltung von Luft, Grund-, Fluss- und Meereswasser eintreten.

Auch im Hinblick auf unsere Bodenschätze müssen wir nachhaltig denken und dürfen nicht „Raubbau“ an ihnen betreiben. Was sollen unsere Enkel und Urenkel von uns denken, wenn es eines Tages keine Bodenschätze mehr gibt? „Raubbau“ wird aber auch an Lebewesen betrieben, denn nichts anderes ist es, wenn Meere leer gefischt werden, sowie Wild-, Vogel- und Insekten-Arten verschwinden, weil ihnen die Lebensgrundlagen genommen werden. „Das Mitfühlen mit allen Geschöpfen ist es, was den Menschen erst wirklich zum Menschen macht.“

Ohne Ackerboden können wir uns nicht ernähren. Auch er braucht Pflege, die nur durch eine ökologisch betriebene Landwirtschaft möglich ist. Sie fördert das Leben im Boden durch natürlichen Dünger. Sie verstößt mit ihrer artgerechten Tierhaltung im Gegensatz zur qualvollen Massentierhaltung auch nicht gegen das Gebot der Ehrfurcht vor dem Leben unserer Haustiere. „Naturfreund ist der, der sich mit allem, was in der Natur lebt, innerlich verbunden fühlt“, schrieb Schweitzer.

Die Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben setzt eigenes Denken in Freiheit voraus. Wahrhaftige Demokratie braucht selbständig denkende, mündige Bürger. „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines Anderen zu bedienen“, sagte Immanuel Kant. „Der Andere“ können Demagogen oder demagogische Vereinigungen, aber auch verantwortungslose Sekten oder Medien sein. „In keiner Weise dürfen wir uns dazu bewegen lassen, die Stimme der Menschlichkeit in uns zum Schweigen bringen zu lassen“, sagte Albert Schweitzer. Uneingeschränkt gelten deshalb die Worte von Gottfried Schüz:

„Ohne Ehrfurcht vor dem Leben hat die Menschheit keine Zukunft.“