Ethik ist wichtiger als Religion

Von Einhard Weber

Gleich zwei bedeutende Religionsführer nehmen sich, auf bisher ungewohnte Art und Weise, der Rettung unserer Umwelt an. Papst Franziskus macht mit seiner Enzyklika „Laudato si“ seinem Namen Ehre, indem er seinen Appell zur Erhaltung der Schöpfung an alle Menschen richtet.

Unser Schirmherr im Jubiläumsjahr der Klinikgründung in Lambarene/Gabun, Friedrich Schorlemmer, spricht in einem ZEIT-Interview vom 25. Juni von einer „Hoffnungsfanfare“. Nahezu zeitgleich erschien das Buch „Der Appell des Dalai Lama an die Welt – Ethik ist wichtiger als Religion“, das im Wesentlichen aus einem Interview besteht, das Franz Alt, unser Laudator bei der Vergabe des 1. Internationalen Albert-Schweitzer-Preises 2011 in Königsfeld, geführt hat.

Schon vor Jahren war der Dalai Lama der Meinung, dass wir gegenwärtig einen 3. Weltkrieg gegen die Natur führen. Und in seinem Vorwort des gemeinsamen Büchleins berichtet Franz Alt: “ Immer häufiger spricht er (der Dalai Lama -Vf.) bei seinen weltweiten Vorträgen über eine säkulare Ethik jenseits aller Religionen.“ Und fährt fort: „Albert Schweitzer nannte dasselbe Anliegen <Ehrfurcht vor dem Leben>.“

Auf die Frage der ZEIT „Haben Sie an der Enzyklika nichts auszusetzen?“ sagte Friedrich Schorlemmer: „Leider doch. Der Papst hat meinen Helden Albert Schweitzer vergessen. Dass ich kein Zitat von dem großen Ökophilosophen gefunden habe, ist mehr als verwunderlich.“

ZEIT: „Welches Zitat hätte sich denn geeignet?“

Schorlemmer: „<Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.> Das steht in der Enzyklika sinngemäß drin. Aber Schweitzer hat vor hundert Jahren schon versucht, es zu leben und zu reflektieren. Beides!“

Ein wenig verwundert war auch ich über den letzten Satz in der Einleitung des Dalai Lamas: „Die Strategie der Gewaltfreiheit und der Ehrfurcht vor allem Leben ist das Geschenk Tibets an die Welt.“

Zweifelsfrei ist, dass Gewaltfreiheit und Ehrfurcht vor dem Leben zentrale Anliegen des Buddhismus seit vielen Jahrhunderten sind, aber bis ins letzte Jahrhundert keineswegs weltwirksam waren.

Die Gewaltfreiheit und die Ehrfurcht vor dem Leben haben erst Gandhi und Albert Schweitzer durch ihr beispielhaftes Leben in unsere Welt gebracht und damit gezeigt, dass sie keine unerfüllbaren Utopien, sondern durchaus mögliche Alternativen zu der jetzigen globalen, destruktiven Ideologie sind, die Profit über den Menschen setzt.

Die großen Religionen scheinen nicht in der Lage zu sein, religionsübergreifende universelle Lösungen für die drängenden Fragen unserer Zeit anzubieten. Mehr denn je ist jedoch, wie die israelische Soziologin Eva Illouz im Hinblick auf die Probleme des Staates Israel fordert, „eine nichtreligiöse Antwort auf die Herausforderungen der Moderne und des Universalismus“ notwendig.

In diesem Zusammenhang sollte Albert Schweitzers Gedankenwelt, insbesondere seine Kulturphilosophie, wieder stärker ins Bewusstsein rücken, da sie mit jedem Tag aktueller werden und seine säkulare Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben eine praktikable Handlungsanleitung für den Einzelnen bietet. Es wird höchste Zeit, dass immer mehr Menschen sich seiner Sichtweise annehmen, sie unterstützen und den Zeitproblemen angemessen weiter entwickeln. Vielleicht können die Appelle des Papstes und des Dali Lama dazu beitragen.