„Es kommt auf jeden Einzelnen an“ – Die Albert-Schweitzer-Hommage und die Berührbarkeit des Publikums

Ein Gespräch von Ralf Siepmann mit Ulrich Pakusch, Organist und Dirigent

Sie haben Orgel, Klavier und Dirigieren studiert, waren an Theatern in Regensburg, Kaiserslautern und Karlsruhe sowie Würzburg engagiert, zuletzt als Studienleiter und Kapellmeister. Nun sind Projekte zu Albert Schweitzer und seinem großen humanitären Werk in Lambarene ein wichtiges Thema Ihrer künstlerischen Arbeit. Was ist Ihr Hauptmotiv?

Mein Hauptmotiv ist die Persönlichkeit Schweitzers. Es ist die Bewunderung für einen Menschen, der sich nie verbieten ließ, das zu sagen und zu schreiben, was er dachte, auch wenn es unbequem war. Ein Mensch, der sich unglaublich tiefgründig mit einem Thema auseinandersetzen konnte, sei es nun aus dem Bereich der Philosophie, der Theologie, der Musikwissenschaft oder des Orgelbaus. Sein Denken führte stets zu neuen Erkenntnissen. Das Jubiläumsjahr 2013 ist daher für mich ein willkommener Anlass gewesen, mich intensiver mit seinem Leben und Denken zu beschäftigen und meine Faszination durch eine künstlerische Umsetzung anderen Menschen mitzuteilen.

Zusammen mit dem Schauspieldirektor Bernhard Stengele vom Theater Gera/Altenburg sowie einem Schauspieler-Ensemble aus Burkina Faso haben Sie ein Projekt entwickelt und in zunächst vier Aufführungen erprobt, das sich Schweitzer und seinem Einsatz auf dem afrikanischen Kontinent mit den Mitteln des Theaters nähert. Wie kam es dazu?

Mit Bernhard Stengele verbindet mich eine langjährige künstlerische Zusammenarbeit in unserer gemeinsamen Zeit am Mainfranken Theater Würzburg. Wir haben zahlreiche literarisch-musikalische Abende entwickelt und aufgeführt. Vor zwei Jahren nahm Stengele Kontakt zum Cito Theater in Ouagadougou, Burkina Faso, auf. Das Ergebnis war ein von afrikanischen und deutschen Schauspielern erarbeitetes Theaterstück, das in Würzburg uraufgeführt wurde. In dieser Spielzeit sind drei Schauspieler aus Burkina Faso zu Gast am Theater Altenburg/Gera. Als mich Michael Grüber, der Organisator der Benefizkonzertreihe, ansprach, war mein erster Gedanke, eine Schweitzer-Hommage mit den auch mir persönlich bekannten afrikanischen Künstlern zu entwickeln. Stengele griff die Idee begeistert auf und ermöglichte nach Absprache die Beteiligung der Schauspieler aus Burkina Faso.

Wie reagiert das Publikum auf diese sehr spezielle Hommage an Schweitzer?

Begeistert! Die Resonanz war überwältigend. Wir erhielten E-Mails, in denen Zuhörer in besonders anrührender Art und Weise uns mitteilten, wie sehr der Abend sie im Innersten getroffen hätte. Viele erkundigten sich nach den weiteren Gastspielorten, um Freunden und Bekannten diese Hommage zu empfehlen.

Welche Erfahrungen mit dem Publikum in diesen Konzerten haben Sie besonders bewegt?

Das Publikum hat unsere Schweitzer-Hommage äußerst konzentriert verfolgt. Es war deutlich zu sehen, wie interessiert die Zuhörer die afrikanische Musik aufnahmen, wie aktiv sie mit der afrikanischen Schauspielerin bei ihrer sehr persönlichen Schweitzer-Biografie kommunizierten, wie anrührend sie es empfanden, als sich aus einem afrikanischen Wiegenlied heraus der Choral „Nun ruhen alle Wälder“ entwickelte.

Sie treten in Konzerten im Rahmen des Albert-Schweitzer- Jahres als Organist auf, spielen Werke, etwa von Bach zu seinem Gedächtnis oder führen Kompositionen auf, die speziell für das Jubiläumsjahr geschrieben worden sind. Welche Bedeutung hat dies für Sie, als Künstler, als Mensch?

Einen Großteil seiner Lebenszeit hat sich Schweitzer mit Johann Sebastian Bach und seinem Orgelwerk beschäftigt. Bei der Entwicklung der Hommage stand der Name „Bach“ ganz oben auf meiner Themenliste und bildete die größte Herausforderung. Die Auseinandersetzung mit der Rezeptionsgeschichte, zu der Schweitzer einen wesentlichen Beitrag geleistet hat, steht dabei für mich immer am Anfang meiner Überlegungen zu einer Werkinterpretation. Auch wenn die Bachschen Orgelwerke zum Standardrepertoire eines Organisten gehören, so ist mir stets ein Überdenken meiner eigenen Interpretationen sehr wichtig. Da ich von Natur aus ein neugieriger Mensch bin, interessieren mich natürlich auch neue Kompositionen für Orgel, besonders wenn sie in Bezug zu Schweitzer stehen.

„Eine Fuge Bachs ist ein Bauwerk vergleichbar einer Kathedrale“, hat Schweitzer in seinen „Aufsätzen zur Musik“ notiert. Können auch Sie über Bach ins Schwärmen kommen?

Selbstverständlich. Mein erster Orgellehrer, Emmerich Irrgang, war ein Absolvent der Leipziger Musikhochschule und legte mir bereits nach einigen grundlegenden Übungen die Triosonaten von Bach auf das Notenpult, um die Unabhängigkeit von Manual- und Pedalspiel zu trainieren. Nach unendlich schweißtreibendem Üben gelang es mir schließlich, die Einzelstimmen zum Triospiel zusammenzusetzen. Neben der spieltechnischen Herausforderung war es für mich der intellektuelle Anspruch, sich gleichzeitig auf drei virtuos geführte, eigenständige Melodien zu konzentrieren. Es war die Architektur in der horizontalen Linie und in der vertikalen Struktur, die mich bis heute begeistert.

Sehen Sie Chancen, mit den Mitteln der Musik, speziell der Orgel, Menschen heute die ethische Botschaft Schweitzers nahezubringen, vielleicht sogar Jüngeren?

Von überzeugend gespielter und gesungener Musik überträgt sich eine ungeheure Kraft auf Menschen. Schweitzers Ethik fußt auf der christlichen Nächstenliebe. Die Orgel begleitet seit Jahrhunderten die christliche Liturgie und ist die musikalische Botschafterin des Christentums. Schweitzer sagt: „Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben hat religiösen Charakter. Der Mensch, der sich zu ihr bekennt und sie betätigt, ist in elementarer Weise fromm.“ Für die Vermittlung dieses religiösen Aspektes seiner Ethik ist die Orgel wie kein anderes Instrument prädestiniert. Um ein jüngeres Publikum zu einem vertieften Erleben und besseren Verstehen von Orgelmusik zu führen, bedarf es sicherlich einiger Erläuterungen.

Sehen Sie eine Aktualität des großen Humanisten Schweitzer für uns heute?

Schweitzer könnte nicht aktueller sein. Sein Denken ist im Kern Nachhaltigkeitsdenken. Die UNO hat nachhaltige Entwicklung zum Leitbild der Menschheit für das 21. Jahrhundert erklärt. Sie definiert diese als eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Stärkung der subjektiven ethischen Verantwortung ist im Denken Schweitzers elementar enthalten. Die amerikanische Meeresbiologin Rachel Carson stellte ihrem Buch „Der stumme Frühlung“ ein Zitat von Schweitzer voran: „Der Mensch hat die Fähigkeit, vorauszublicken und vorzusorgen, verloren. Er wird am Ende die Erde zerstören.“ Dieses Buch führte zum weltweiten Aufschwung der Ökologiebewegung in den frühen 60er Jahren. Berief sich Carson auf Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben“, so mündet ihr Appell, die Schöpfung zu bewahren, in die erste UN-Klimakonferenz von 1992 in Rio de Janeiro. Diese ist als Ereignis einer Bewußtseinsbildung letzten Endes auf Schweitzer zurückzuführen.

Schweitzers Relevanz für die globale Welt heute bejahen, heißt zum Beispiel konkret im Rahmen des Theaterprojekts, gegen Lebensmittelverschwendung im Norden aufzustehen, um die Lebensgrundlagen von Menschen im Süden zu retten. Ist eine solche Argumentation wirklich begründbar, und wird sie von den Menschen auch verstanden?

Die Argumentation ist absolut begründbar. Die Deutsche Welthungerhilfe schätzt die Menge der weggeworfenen Lebensmittel in Deutschland im Jahr auf ca. 20 Millionen Tonnen im Wert von ca. 20 Milliarden Euro ein. Hunger auf der Welt ist eine direkte Folge dieses Verhaltens. Ursache für die letzte Welthungerkrise waren stark steigende Kurse für Weizen und Reis an den Börsen. Auf dem Weltmarkt wird die Nachfrage nach Weizen weiter ansteigen. Eine Nachfrage, die bei uns zur Hälfte in den Mülleimern landet. Durch diese erhöhte Nachfrage, durch unser Wegwerfen, steigt der Preis, der von ärmeren Ländern nicht mehr bezahlt werden kann. Wir hatten den Eindruck, dass wir vielen Menschen den Anstoß geben konnten, sich in Fragen der Ethik an Schweitzer zu orientieren. Seine Gedanken sind klar formuliert und sprechen die Menschen direkt an. Es bleibt der Wunsch, dass unsere Schweitzer-Hommage über das reine Verstehen hinaus Menschen Anregungen geben kann, ihr Alltagsverhalten zu überdenken und gegebenenfalls zu ändern. Denn es kommt auf jeden Einzelnen an.

Das Interview führte Ralf Siepmann