Ein Humanist im 20. Jahrhundert – Albert Schweitzers Verhältnis zu Goethe

Von Peter Krüger-Wensierski

Mit Blick auf eine bewegte Biografie zeigt sich Albert Schweitzer, von Frankreich wie von Deutschland geistig geprägt, zeit seines Lebens als ein politisch heimatloser Grenzgänger. Zum Glück – möchte man fast sagen, erwies sich der Goethe-Freund doch als ideologisch resistent, ein Weltbürger, der sich als Denker in einer Zeit der Weltanschauungen nicht auf politischem, wohl aber auf festem ethischem Fundament zu bewegen verstand. Den Verbindungen Albert Schweitzers zum verehrten Johann Wolfgang von Goethe ging der Referent des Abends, Dr. Einhard Weber, Arzt und Vorsitzender des Deutschen Hilfsvereins für das Albert-Schweitzer-Spital in Lambarene e.V., engagiert und auch auf eine sehr persönliche Weise genauer nach.

‚Verehrung‘: Was auf uns heute eher befremdlich wirkt, wenn es um Goethe geht, und für entsprechende Zurückhaltung gibt es ja gute Gründe, trifft auf Schweitzers Verhältnis zum großen Weimarer nicht zu: er hat Goethe als Dichter, Mensch und Denker verehrt, aber ohne den fatalen Sockel, auf dem der Klassiker angeblich raumgreifend steht. Schweitzers praktisches Handeln als Arzt in Lambarene wurde begleitet von einer großen geistigen Auseinandersetzung mit Philosophie, Kulturtheorie, Ethik, Religion und Theologie. Und immer wieder ist es Goethe, den er befragt, der ihm antwortet, der ihn begleitet. Entsprechend kann Schweitzer, wenn es um ‚Goethe‘ geht, nur versuchen, das zu beschreiben, „was ich mit ihm erlebte“.

Für einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren zwischen 1928 bis 1949 können wir auf Reden und Aufsätze zurückgreifen, die Schweitzers Auseinandersetzung mit Goethe anschaulich umreißen. Zunächst: Goethes Denken ist undogmatisch, den spekulativen Systemen seiner Zeitgenossen Kant, Fichte oder Hegel vermag er sich kaum anzuschließen. „Was ihn von Kant und Fichte […] trennt, ist die Ehrfurcht vor der Wirklichkeit der Natur. Sie ist ihm etwas an sich, nicht nur etwas im Hinblick auf den Menschen. Er verlangt von ihr nicht, dass sie sich ganz in unsere optimistisch- ethischen Absichten füge.“ [Vortrag, Zit. A.S.] Basierend auf einer pantheistisch beeinflussten Weltsicht lehne Goethe jede Spekulation über eine transzendente Welt ab. Der Referent spricht im Zusammenhang der Frage, wie sich aus der Natur Ethik entwickele, von einer „schwierige[n] Problematik“, denn offensichtlich sei die Natur „a-ethisch“. Schweitzer: „Die Natur kennt nur blinde Lebensbejahung.“ [Vortrag, Zit. A.S.] In seiner dritten Goethe-Rede (1932) antwortet Schweitzer mit Bezug auf Goethe: „Obwohl wir in der Natur nichts von Liebe sehen, ist die Liebe in der Natur. Sie ist in der geistigen Evolution des Menschen in Erscheinung getreten.“ [Vortrag, Zit. A.S.] Goethe sei, so der Referent, von der Evolution der Natur bis hin zum Menschen, drei Generationen vor Darwin, zutiefst überzeugt gewesen. Auch Schweitzer verstehe die Geistesgeschichte der Menschheit nicht als etwas für sich, sondern als eine Bewegung der Evolution der ganzen Natur.

Schweitzers Appell anlässlich der Feiern zum Goethe-Jahr aus Anlass des 100.Todestags lautete: „Gebt das Ideal des persönlichen Menschentums nicht preis, auch wenn es den Verhältnissen, wie sie sich herausgebildet haben, zuwiderläuft.“ Für Schweitzer waren das Scheitern der Weimarer Republik und der aufkommende Nationalsozialismus kein bloßes politisches Systemversagen, sondern ein Versagen in dem, was Menschen als Menschen überhaupt ausmacht, also ein metapolitisches Phänomen. Er wusste sich im Menschenbild mit Goethe einig: Der Sinn der Welt erfüllt sich nicht im breit angelegten Verfolgen von systemischen Weltentwürfen, sondern in der freien Entscheidung des Einzelnen zur ihn erfüllenden sinnvollen Tätigkeit. In diesem Sinne, so Einhard Weber, hält Schweitzer mit Goethe – und gegen Nietzsche – am Gedanken einer Erfüllung der jeweiligen ‚Forderung des Tages‘ – dem Willen zum Guten und Wahren – fest. Bedeutsam ist die Zustimmung, die Goethes Sicht eines Göttlichen‘ („Bedarf ich eines Gottes für meine Persönlichkeit als sittlicher Mensch, so ist dafür auch schon gesorgt.“ Goethe 1813 an Jacobi) beim Straßburger Ordinarius für Theologie findet. Mit Blick auf den Menschen Goethe stellt Schweitzer fest: „Wer an Goethe Kritik üben will, hat’s nicht schwer.“ [Vortrag, Zit. A.S] Vieles erscheint ihm befremdlich, etwa dass Goethe mit Christiane Vulpius 18 Jahre zusammenlebte, bevor er sie heiratete. Das Gesamtbild seiner großen Persönlichkeit wird, auch mit Bezug auf Goethes selbstloses soziales Engagement, dadurch nicht getrübt, aber doch vor einer Ikonisierung bewahrt. Entscheidend für Schweitzer ist Goethes Haltung: „Ein tiefes Bedürfnis zu dienen ist in ihm. Er entzieht sich keiner ihm zufallenden Pflicht, keiner zu übernehmenden Verantwortung. Das Kleinste tut er mit größter Gewissenhaftigkeit. Immer geht er bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit.“ [Vortrag, Zit. A. Schweitzer]

Am Schluss dieses Vortrags bleiben viel Nachdenklichkeit und der Eindruck zurück, dass Schweitzers Appell an die ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘, auf heute bezogen, nichts an Bedeutung und Aktualität verloren hat. „Elementares, selbständiges Denken, wie es Goethe und Schweitzer eigen war, haben zu Aufklärung und Humanität geführt, die unverzichtbare Grundlagen unserer abendländischen Kultur sind. Auf diesen Grundlagen müssen wir unbeirrt beharren…“ – so Dr. Weber in seinem Schlusswort. Wir Kölner Goetheaner bedanken uns für einen gedanklich eindrucksvoll gelungenen ‚Brückenschlag‘ von Goethe über Albert Schweitzer zu Gegenwart und Zukunft.

Der Vortrag wurde am 15. Mai 2015 von Dr. Einhard Weber bei der Goehte-Gesellschaft e.V. in Köln gehalten.