Rezension: Die Orgel bringt es an den Tag – wie das Orgelspiel Albert Schweitzers einen Mord aufklären half

Rezension von Rainer Noll

Die Kriminalgeschichte ‚Im Regen‘ von Herbert Rosendorfer handelt von einem sehr wohlhabenden kinderlosen alten Herrn, mehrfacher Millionär, der sich seit Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigte.

Er lebt angeblich zurückgezogen in seiner Villa am Schliersee, wo er eine Hausorgel besitzt. Nur sein Orgelspiel ist fast täglich zu hören, auch Bachs C-Dur-Toccata BWV 564. Nun wird ein Anwalt von einer entfernten Verwandten in den USA beauftragt, eine Erbsache zu klären. Dieser quartiert sich umgehend zu Recherchen in dem kleinen Ort ein, wo die Villa, eher ein Schloss, steht (der Ortsname Gläsen scheint frei erfunden). Das fürstliche Honorar der Dame ermöglichte ihm dies. Unter falschen Angaben macht er sich an den ebenfalls alten Butler oder Hausmeister der Villa heran, wird aber von diesem nicht ins Haus vorgelassen.

C-Dur-Toccata nährt Mordverdacht

Natürlich hört er draußen auch das recht gute Orgelspiel: meist Bachs C-Dur-Toccata, offenbar das Lieblingsstück des Hausherrn. Er erinnert sich plötzlich an eine LP, auf der Albert Schweitzer diese C-Dur-Toccata spielt. Und unser Anwalt besorgt sich nun erneut diese LP und sogar die Noten, die er beim Anhören verfolgt (früher einmal war er selbst bei seinen Orgelversuchen an diesem Stück gescheitert). Da entdeckt er einen Fehler in Schweitzers Interpretation, den er genau beschreibt: „Zum Schluss der Pedalsequenz findet sich eine rasende Triolenbewegung abwärts, die in einer zweimaligen punktierten Figur endet. Offenbar im Schwung der Bewegung – ohne es zu merken? – spielte Schweitzer (…) diese Figur nicht zwei-, sondern dreimal. Im eher rezitativischen Tongeschehen dieser Stelle vor dem erneuten Einsetzen des vollen Werkes merkt man kaum, dass Schweitzer da Bach statt eines Vierviertel-Taktes einen quasi Fünf-Viertel-Takt unterschob.“ (S. 82) Es handelt sich eindeutig um Takt 30/31 am Schluss des Pedalsolos. Zu seiner Überraschung hört er an mehreren Tagen immer wieder genau diesen Fehler im Orgelspiel des alten Herrn.

Dies weckt einen Verdacht, und er findet die Spur zur Aufklärung eines Verbrechens: der Hausmeister hatte den alten Herrn und auch dessen Frau schon vor Jahren ermordet und sich und seiner inzwischen verstorbenen Frau deren Identität zugelegt, wobei er nun den Hausmeister, Verwalter und Hausherrn in einer Person spielte. Von einem Magnetband ließ er immer wieder diese LP-Aufnahme Schweitzers ertönen, um mit dem Erklingen der Orgel die Anwesenheit des Hausherrn vorzutäuschen. Soweit Rosendorfers Kriminalgeschichte in Kurzfassung – es lohnt, das Original zu lesen.

Analyse einer Schallplatte und literarische Freiheit

Ich besitze diese LP mit Bachs Toccata, Adagio und Fuge C-Dur BWV 564, eine absolute Rarität, von Schweitzer 1952 in Günsbach/Elsass eingespielt. Diese nahm ich mir nun nach der Rosendorfer-Lektüre noch einmal vor: im Pedalsolo in Takt 22/23 fügt Schweitzer tatsächlich durch (wohl versehentliche oder einen Schnitt bedingte) Wiederholung einer sequenzierten Sechzehntelfigur, die nicht bei Bach steht, dem Vierviertel-Takt einen Viertelschlag zuviel hinzu, was man aber ohne die Noten in der Hand kaum bemerken würde. Die im Text erwähnte angeblich falsche Stelle Takt 30/31 ist dagegen korrekt gespielt, lässt sich aber, weil rhythmisch prägnanter, viel besser beschreiben – literarische Freiheit!

Schweitzers Einspielung von BWV 564 hat aber andere, wesentlich gravierendere Mängel – mal ganz abgesehen von der stilistischen Auffassung, die für nicht dogmatisch verbildete „historisch informierte“ Ohren dennoch ihren „Charme“ hat, auf den man sich allerdings einlassen muss. Man bedenke, dass etwa zur gleichen Zeit Helmut Walcha alle Orgelwerke Bachs auf Barockorgeln aufnahm: stilistisch, klangästhetisch sowie aufnahme- als auch spieltechnisch ein völliger Gegensatz zu Schweitzers Interpretation – längst war eine neue Ära angebrochen, die „neobarocke“, heute schon wieder „aus der Mode“; Schweitzer hatte sich quasi selbst überlebt.

Neben zwar winzigen Streiftönen im Pedalsolo, die aber heute kein Toningenieur durchgehen lassen würde, zählt er einige notierte Pausen nicht richtig aus. Sie geraten unterschiedlich, manchmal zu kurz und auch nicht im Metrum, so in der Toccata. Beim ersten Erklingen des von Pausen durchbrochenen Fugenthemas spielt er besonders nach der ersten Pause zu früh weiter – selbst ihm mag sie wohl bei dem für diese Fuge zu schwerfälligen Tempo und der gravitätischen Registrierung in französisch-romantischer Zungenklangfarbe endlos vorgekommen sein (im späteren Verlauf der Fuge ist diese Verkürzung nicht mehr möglich, da die Pausen im Thema durch laufende Sechzehntelnoten ausgefüllt werden). Diese und andere Ungenauigkeiten lassen sich leider auch nicht mehr mit „künstlerischer Freiheit“ rechtfertigen.

Schweitzers schwerblütige Interpretationsart

Hier muss man allerdings auch generell einmal sagen, dass die schwerblütige Schweitzersche Interpretationsart solchen jugendlichen, eher leichtfüßig-virtuosen, vom „Stylus Phantasticus“ eines Dietrich Buxtehude inspirierten Bachwerken wie gerade der C-Dur-Toccata nicht besonders bekommt („Schweitzer spielt Buxtehude“: kaum vorzustellen!). Viel mehr liegen ihm etwa Präludium und Fuge h-Moll oder f-Moll oder Choralvorspiele wie „Schmücke dich“, „Vor deinen Thron“ oder „An Wasserflüssen Babylon“ und natürlich die Romantiker Mendelssohn, Franck und Widor (Schweitzer war Widor-Schüler!).

Ein Blick in die von mir selbst 1990/91 in seinem Haus in Günsbach/Elsass erstellte Aufstellung aller von Schweitzer eingespielten Orgelschallplatten zeigt mir allerdings, dass er Bachs Toccata, Adagio und Fuge C-Dur bereits 1936 auf der nach seinen Plänen erweiterten Silbermann-Orgel in St. Aurelien in Straßburg aufgenommen hatte – er war damals 61. Die LP mit dieser Einspielung liegt im Archiv in Schweitzers Haus dort in Günsbach. Da ich im Moment nicht darauf zugreifen kann, könnte ich vermuten, dass sich hier vielleicht der Spielfehler an der von Rosendorfer genannten Stelle findet. Was ich aber nicht glaube, denn Rosendorfer spricht ausdrücklich von der Aufnahme, „die der greise Albert Schweitzer noch eingespielt hat“ (S. 77) „Noch“ klingt wie: gerade eben noch, bevor der „greise Schweitzer“ nicht mehr spielte oder starb. Zudem beschreibt er den erneuten Erwerb dieser LP wie folgt: „Auf dem Weg zum Auto kam ich an einem Schallplattenladen vorbei. Im Schaufenster lagen Sonderangebote: auslaufende Serien, darunter ausgewählte Orgelwerke Bachs, gespielt von Albert Schweitzer. Die Toccata in C-Dur war dabei. Ich kaufte sie.“ (S. 78)

Eine unglaubliche Leistung

Genau bei einer solchen Gelegenheit habe auch ich damals in den sechziger Jahren meine Schweitzer-LPs, 1952 in Günsbach für Columbia (USA) aufgenommen, als Auslaufmodelle erstanden – die Straßburger Aufnahmen waren zu der Zeit gar nicht mehr im Handel. Und nur wenig später spielte der Kauf in Rosendorfers Geschichte, denn dort heißt es: „Wir schrieben damals, als Mrs. Morton zu mir kam, 1970.“ (S. 70) Die fiktive Mrs. Morton, in der Erzählung 1935 geboren, war die oben erwähnte Verwandte aus den USA, die dem Anwalt den Nachforschungsauftrag erteilt hatte. All dies bezeugt eindeutig, dass es sich bei der Schweitzer-Interpretation bei Rosendorfer um Schweitzers letzte Aufnahme von 1952 in Günsbach handeln muss, als Schweitzer 77 Jahre alt war – hier macht es auch mehr Sinn, vom „greisen“ Schweitzer zu reden als von dem 61-jährigen bei der Straßburger Aufnahme von 1936 (mit 80 konzertierte er zum letzten Mal öffentlich auf der Cavaillé-Coll-Orgel in Wihr-au-Val, einem Nachbardorf Günsbachs).

Das muss man sich einmal im Einzelnen klar machen: ein 77-jähriger Schweitzer kommt nach längerem erschöpfendem Tropenaufenthalt nach Europa und spielt auf seiner geliebten, nach seinem romantischen Klangideal umgebauten Orgel in Günsbach zwischen unzähligen anderen Verpflichtungen (er war inzwischen weltberühmt) fast alle großen Bachwerke sowie Mendelssohn, Franck und Widor für die Schallplatte ein (von letzterem die 6. Orgelsymphonie, die schon allein physisch dem Interpreten eine hohe Anstrengung abverlangt). In Afrika konnte er zwar üben auf dem tropenfesten Gaveau-Klavier mit Orgelpedal, das ihm die Pariser Bach-Gesellschaft, deren Gründungsmitglied er war, als Dank für seinen Einsatz bei deren Konzerten als Continuo-Organist 1913 nach Lambarene geschickt hatte (es steht heute in seinem Haus in Günsbach – ich übte während meiner Arbeit an Schweitzers musikalischem Nachlass darauf). Aber weder Manualwechsel noch Registrierungen waren hier realisierbar. Zum Üben kam er manchmal nach dem Mittagessen (zur „Erholung“ statt Mittagsschlaf) und für eine halbe bis eine Stunde gegen Mitternacht, und dies nach einem um 6 Uhr morgens beginnenden anstrengenden Arbeitstag im Spital, dessen Chef (nicht nur Chefarzt!) er war. Eine unglaubliche Leistung – trotz aller Abstriche!

Aufklärung eines Mordes

An Rosendorfers Kriminalerzählung – auch wenn sie „nur“ erfunden ist – wird deutlich, dass selbst Fehler, wie in Schweitzers Interpretation beschrieben, noch einen guten Zweck erfüllen können, wie hier die Aufklärung eines Mordes. Im Gegenzug regte mich diese Lektüre zu einer erneuten Spurensuche in Schweitzers Aufnahme von Bachs C-Dur-Toccata an.

Man denkt an Adelbert von Chamissos bekannte Mord-Ballade „Die Sonne bringt es an den Tag“ und möchte als Abwandlung dieses Titels über Herbert Rosendorfers „Im Regen“ schreiben: „Die Orgel bringt es an den Tag“.

Der in Bozen 1934 geborene und ebenda 2012 gestorbene Herbert Rosendorfer war Schriftsteller, Jurist (Richter in München und Naumburg) sowie Professor für bayerische Literatur. Am bekanntesten wurde er durch seine „Briefe in die chinesische Vergangenheit“. In seiner Sammlung „Die Frau seines Lebens und andere Geschichten“ findet sich die Kriminalgeschichte „Im Regen“ (DTV, München 2004, ab S. 69).