Die Bedeutung einer radikalen Individualethik für die innere Haltung in der Bildungs- u. Sozialarbeit am Beispiel Albert Schweitzers

Dr. Gottfried Schüz
Vorsitzender der Stiftung Deutsches Albert-Schweitzer-Zentrum Frankfurt/M.

Impulsreferat im Rahmen der Fachtagung des Ev. Regionalverbands Frankfurt/M am 24.9.2013 Ev.-St. Peter-Gemeinde Frankfurt/M.

Wenn von einer radikalen Individualethik in Verbindung mit Albert Schweitzer die Rede ist, wird man zunächst an dessen radikalen Schritt denken, den er, sozusagen im Alleingang, gegen alle Konvention und gesellschaftlichen Erwartungen 1913 vollzog. Es sind also genau 100 Jahre her, dass Albert Schweitzer, der gerade seinen dritten Doktortitel erworben hatte, zusammen mit seiner Frau aus seinem elsässischen Heimatdorf aufbrach, um im äquatorialafrikanischen Gabun auf dem Gelände der Missionsstation Lambarene ein Urwald-Spital aufzubauen.

Als der 30-Jährige Schweitzer ein komplettes Medizinstudium in Angriff nahm, war er längst ein hoch angesehener Theologiedozent an der Straßburger Universität und ein europaweit gefeierter Organist und Bachinterpret. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, seine aussichtsreiche Doppelkarriere aufzugeben und auf Jesu‘ Nachfolgeruf in Demut zu antworten: „Ja, Herr – ich mache mich auf den Weg.“

Aus Dankbarkeit für das Gute, was ihm geschenkt war, ging er als Arzt in den Urwald, um davon in helfender Hingabe an die Ärmsten der Armen etwas zurückzugeben. Er wollte nicht nur von der Religion der Liebe reden, sondern diese im Tun verwirklichen. Zugleich verstand er sein Wirken in Afrika als kleine Wiedergutmachungsleistung für die Schandtaten, die der weiße Mann über den schwarzen Kontinent gebracht hatte.

Und so bekannte er später rückblickend:

„Ja, ich habe alles gekannt … die Freuden der Wissenschaft, die Freuden der Kunst, ich kenne das erhebende Gefühl des Erfolges … Aber ich fühle, dass das nicht alles ist, dass es nichts ist … und ich habe immer deutlicher erkannt, dass die einzige Wahrheit und das einzige Glück darin besteht, unserem Herrn Jesus Christus dort zu dienen, wo er uns braucht.“

Ohne auch nur eine Behandlungsbaracke vorzufinden und allein auf private Spenden gestützt, baute Schweitzer inmitten des Urwaldes ein Spital auf, das bis zum heutigen Tag besteht. Wer Schweitzers überaus spannenden Berichte in seinem Buch „Zwischen Wasser und Urwald“ oder seine „Briefe aus Lambarene“ liest, bekommt ein eindrucksvolles Bild und eine Ahnung davon, welch ungeheure Lebensleistung dahinter stand: mit einfachsten Mitteln auch schwierigste Erkrankungen zu behandeln – bei gleichzeitigem zähem Kampf gegen extreme klimatische Bedingungen, Widrigkeiten der Natur, gegen Unverständnis und Aberglauben der Patienten und eigene Müdigkeit; und auch unter ständigem Auf- und Ausbau des Spitals über fünf Jahrzehnte hinweg, das sich zu einem regelrechten Krankendorf auswuchs.

Ist somit also Schweitzers radikale Individualethik auf dem Boden seines christlichen Glaubens erwachsen? – Ganz und gar nicht! Diese hat gänzlich andere Wurzeln, nämlich in seinem philosophischen Denken. Dieses entzündete sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts an seiner Kulturkritik, die in eine umfassende Kulturphilosophie einmündete, in deren Rahmen er seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, das Kernund Herzstück seines geistigen Vermächtnisses, ausarbeitete.

Der Zeitgeist zur vorletzten Jahrhundertwende war erfüllt durch einen wachsenden Fortschrittsoptimimus. Die sich förmlich überschlagenden wissenschaftlichtechnischen Entwicklungen bedingten eine entsprechend rasante Hebung des materiellen Lebensstandards der Industrienationen. Man hing zugleich der Illusion nach, dass dieser Fortschritt analog auch eine kulturell-geistige Höherentwicklung bewirken würde. Aber gerade dies wurde Schweitzer zutiefst zweifelhaft. Nicht kultureller Fortschritt, sondern einen Niedergang der Kultur war die Folge und mit ihm sah er eine zunehmende Unmenschlichkeit um sich greifen.

Der materielle Fortschritt der Industrienationen war durch eine zunehmend fremdbestimmte Lebensführung, durch extreme Arbeitsteilung in der Gesellschaft und eine Verstädterung und Anonymisierung teuer erkauft. Den Menschen war zunehmend ein tragender Sinn für das eigene Leben abhanden gekommen und zum Ausgleich der einseitigen Belastungen des Arbeitsprozesses in wachsendem Maße geistlosen Zerstreuungen hingegeben. Der moderne Mensch droht, so Schweitzer, seines eigensten Menschseins verlustig zu gehen. Der Erste Weltkrieg war für ihn die notwendige Folge dieses ethisch-geistigen Verfalls der Moderne.

„Wir stehen im Zeichen des Niedergangs der Kultur,“ – so leitet Schweitzer seine Kulturphilosophie ein, um fortzufahren: „Der Krieg hat diese Situation nicht geschaffen er selber ist nur eine Erscheinung davon“.1 Und im weiteren Verlauf seiner Kulturkritik kommt er zu der alarmierenden Feststellung:

„Ein Unfreier, ein Ungesammelter, ein Unvollständiger, ein sich in Humanitätslosigkeit Verlierender, ein seine geistige Selbständigkeit und sein moralisches Urteil an die organisierte Gesellschaft Preisgebender: so zog der moderne Mensch seinen dunklen Weg in dunkler Zeit.“2

Die Problemlage, in der wir uns heute befinden, lässt sich kaum treffender charakterisieren.

Über viele Jahre ließ Schweitzer daher nicht mehr die Frage los, wie eine von Grund auf tragfähige ethisch-geistige Erneuerung der Menschheit erfolgen könnte. In welcher Richtung war hier ein Ausweg aus der Kultur- und Ethikkrise zu finden?

Dies konnte für ihn allein in einer neuen ethischen Grundgesinnung gelingen, die es mit „drei Gegnern“ zu tun hat: „(M)it der Gedankenlosigkeit, mit der egoistischen Selbstbehauptung und mit der Gesellschaft“.3

Ersteres muss jedem unmittelbar einleuchten: Gedankenlosigkeit und Egoismus, wenn die eingedämmt sind, dann geht es allen besser. Aber die „Gesellschaft“? Wäre es nicht gerade sie, die kraft Recht und Gesetz, durch Regeln und Normen von Staat und übergreifenden Institutionen zur Besserung der Lebensverhältnisse entscheidend beizutragen, wenn nicht gar einzig zu verwirklichen hätte?

Schweitzer kommt zum gegenteiligen Schluss:

„Der Zusammenbruch der Kultur ist dadurch gekommen, dass man der Gesellschaft die Ethik überließ“. Die Gesellschaft kann nicht der ethische Erzieher des Einzelnen sein: „Ethischer Erzieher ist nur der ethisch denkende und um Ethik ringende Mensch“.4

Warum? Die Gesellschaft kann immer nur „Vollstrecker allgemeiner Interessen“ sein. Sie muss auf eine Verwirklichung allgemeiner Zwecke, die einer Erhaltung des Gemeinwesens dienen, ausgerichtet sein.

Eine Humanisierung der Gesellschaft ist nicht dadurch zu bewerkstelligen, dass wir die sog. „Verhältnisse“ ändern, dass wir durch eine „Neuorganisation der Gesellschaft“ wieder neue, dem Humanitätsideal entsprechende Kulturzustände bekämen.5 Eine Erneuerung der Kultur im ethischen Geist ist für Schweitzer stattdessen nur über neue Gesinnung zu erreichen, die vom Humanitätsideal durchdrungen ist; drei Zitate mögen dies unterstreichen:

„(A)lle Probleme unserer Zeit (sind) nur durch Gesinnung zu lösen“.6

„Keine andere Art der wirklichen Erneuerung der Welt ist denkbar, als dass wir vorerst unter den alten Verhältnissen neue Menschen werden“.7

Oder an anderer Stelle: „Kultur … kann nur dadurch wieder zustande kommen, dass die vielen Einzelnen, unabhängig von der jetzt herrschenden Gesamtgesinnung entsteht, die nach und nach auf die Gesamtgesinnung Einfluß gewinnt und sie zuletzt bestimmt … Das Ethische … kommt nur im Einzelnen zustande.“8

Jedoch auf welcher Grundlage kommt der Einzelne zu einer ethischen Gesinnung?

Während der ersten Jahre des Aufbaus seines Spitals in Lambarene ließ Schweitzer die Frage nicht los, dass es eine neue Ethik geben müsse, die die Menschheit aus ihrem Elend retten könne. Eine Ethik, die über alle Grenzen der Religionen, Nationen und Weltanschauungen hinweg universelle Gültigkeit hat und eine humane Gesinnung der Völker begründen könne. Es sollte eine Ethik sein, die jeder vernünftig und wahrhaftig nachdenkende Mensch anerkennen muss. Diese Ethik sieht Albert Schweitzer in der Leitidee der „Ehrfurcht vor allem Leben“ zentriert.

Diese Ehrfurchtsethik ist in mehrfacher Hinsicht radikal-individual:

1. Sie geht an die Wurzeln des Menschseins. Sie kann nicht einfach normativ verordnet werden, sondern sie erschließt sich nur demjenigen, der nüchtern und wahrhaftig, d.h. ohne Selbsttäuschung und Ausflüchte bereit ist, über sein grundlegendes Verhältnis zum anderen, ihn umgebenden Leben nachzudenken.

Wenn ich mich auf eine solche Selbstbesinnung einlasse, so Schweitzer, muss ich mich mit einer Grundtatsache des Bewusstseins auseinandersetzen, die niemand leugnen kann: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“.

Der über diese Tatsache nachdenkende Mensch kann nicht anders, als nicht nur den eigenen Willen zum Leben bzw. die eigene Lebensbejahung, sondern auch die Lebensbejahung, die sich in dem vielgestaltigen Leben um ihn herum zeigt, mitzuerleben und in gleicher Weise anzuerkennen wie die eigene. Wir erleben aus dieser Tatsache geradezu die „Nötigung“, allem Leben die gleiche „Ehrfurcht“ entgegenzubringen.

Daraus resultiert die folgende grundlegende Handlungsmaxime:

„Als gut gilt …, Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen. Als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten. Dies ist das denknotwendige, universelle, absolute Grundprinzip des Ethischen“.9

2. Zugleich ist diese Ethik „radikal“ im Blick auf den Anspruch ihrer universellen Gültigkeit: Allem Leben ist mit gleicher Ehrfurcht zu begegnen. Sie lässt keinerlei Wertunterschiede zwischen den Lebewesen, gleich welcher Art oder Organisationsstufe, gelten.

„Diese Ethik macht keinen Unterschied zwischen wertvollerem und weniger wertvollem, höherem und niederem Leben. Sie lehnt eine solche Unterscheidung ab. Denn der Wunsch, allgemeingültige Wertunterschiede zwischen den Lebewesen anzunehmen, läuft im Grunde darauf hinaus, sie danach zu beurteilen, ob sie uns Menschen nach unserem Empfinden näher oder ferner zu stehen scheinen. Das ist aber ein ganz subjektiver Maßstab. Wer von uns weiß, welche Bedeutung das andere Lebewesen an sich und im Weltganzen hat? Die Konsequenz dieser Unterscheidung ist dann die Ansicht, dass es wertloses Leben gäbe, dessen Vernichtung erlaubt sei. Je nach den Umständen werden dann unter wertlosem Leben Insekten oder primitive Völker verstanden.“10

So einfach der vorstehend zitierte ethische Grundsatz auch klingt, so schwer ist er im Einzelfall umzusetzen; ja er führt uns buchstäblich auf Schritt und Tritt in unentrinnbare Konflikte hinein. Wir kommen nämlich fortgesetzt in die Lage, eigenes Leben nur auf Kosten anderen Lebens erhalten zu können. Dies beginnt schon beim Waldspaziergang, bei dem unter unserer Sohle Ameisen, Insekten und andere Kleinlebewesen vernichtet werden. Oder denken wir nur an die gigantische Zerstörung von Lebensraum für Menschen, Pflanzen und Tiere im engeren und weiteren Umkreis, den moderne Industriegesellschaften zur Erhaltung und Steigerung ihres Lebensstandards billigend in Kauf nehmen; eine Vernichtung von Leben, deren Ausmaß selbst Schweitzer nicht kannte.

Aber auch im Bestreben bestimmtes anderes Leben zu erhalten, verursachen wir Leid und Schaden. Eins der vielen Beispiele Schweitzers:

„Ich kaufe Eingeborenen einen jungen Fischadler ab, den sie auf der Sandbank gefangen haben, um ihn aus ihren grausamen Händen zu erretten. Nun aber habe ich zu entscheiden, ob ich ihn verhungern lasse, oder ob ich täglich soundso viele Fischlein töte, um ihn am Leben zu erhalten. Ich entschließe mich für das letztere. Aber jeden Tag empfinde ich es als etwas Schweres, dass auf meine Verantwortung hin dieses Leben dem andern geopfert wird.“11

Schweitzer macht immer wieder deutlich, dass wir, um eigenes oder fremdes Leben zu erhalten, anderes Leben schädigen oder vernichten müssen und dadurch schuldig werden. Muss aber dann eine „Schuld“, die in solcher Zwangsläufigkeit auf uns kommt, nicht ihre moralische Wertigkeit verlieren? Ist sie dann nicht ethisch gesehen irrelevant?

Die menschliche Verantwortung gegenüber anderem Leben ist durch unser Schuldigwerden- müssen keineswegs außer Kraft gesetzt. Im Gegenteil, jene setzt gerade hier erst ein: Diese Verantwortung besagt, in jedem einzelnen Fall und in jeder Situation neu zu prüfen, ob die Weise der jeweils anstehenden Schädigung irgendwelchen Lebens wirklich unabdingbar „notwendig“ ist.

„Über das Unvermeidliche darf ich in nichts hinausgehen, auch nicht in scheinbar Unbedeutendem“, sagt Schweitzer und illustriert dies an einem Beispiel:

„Der Landmann, der auf seiner Wiese tausend Blumen zur Nahrung seiner Kühe hingemäht hat, soll sich hüten, auf dem Heimweg in geistlosem Zeitvertreib eine Blume am Rande der Landstraße zu köpfen, denn damit vergeht er sich an Leben, ohne unter der Gewalt der Notwendigkeit zu stehen.“12

Darum bleibt, wer die Solidarität mit allem Lebendigen erlebt, nichts anderes übrig, als von dieser Schuld abzutragen und alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Schmerz und Leid der Mitwelt zu lindern bzw. Leben zu erhalten und zu fördern, ja „auf seinen höchsten Wert“ zu bringen.13 Von dieser Wiedergutmachungspflicht kann sich keiner suspendieren, der wahrhaftig ist gegenüber sich selbst und seiner Mitwelt. Sind wir uns erst einmal unserer Verbundenheit mit allem Leben und dieses Zusammenhangs von Schuld und Verantwortung bewusst geworden, dann ist auch die Forderung der Ehrfurchtsgesinnung keine bloße Moralfloskel, sondern denknotwendig und unabweisbar.

3. Eine solche Ethik, die Konflikten nicht ausweicht, sondern diese als für unser Leben unabwendbar anerkennt, läuft nicht dem Ehrfurchtsgedanken zuwider. Dieser wird dadurch keineswegs relativiert, sondern er ist „radikal“ auch im Blick auf seine absolute Geltung. Er ist in keinerlei Lebenssicht mehr außer Kraft gesetzt; er gilt immer. Und wenn wir uns diesem ethischen Leitgedanken verschreiben, dann gewinnen wir eine unüberbietbare Freiheit unseres Entscheidens und Handelns, die aber in einer ebenso unüberbietbaren Verantwortung Wurzeln schlägt. Die Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben wirft uns geradezu in eine „erschreckend unbegrenzte Verantwortung“. 14 Sie kann nicht anders als alles menschliche und nichtmenschliche Leben zu achten und in unsere Verantwortung einzubeziehen. Sie verbietet jegliche Ausgrenzung von uns ferner stehenden Menschen oder Lebewesen.

Diese Ethik verabschiedet sich von glatten Lösungen, die nicht wenige Zeitgenossen in klaren Regeln, in einer objektiv abgestuften Wertehierarchie und daraus ableitbaren Handlungsanweisungen suchen. Ich muss in jeder Situation neu abwägen, inwieweit ein Schädigen oder Töten anderen Lebens unabweisbar notwendig ist, um Leben zu erhalten.

Auf die ethische Grundfrage: „Was soll ich tun?“ erhalten wir nur zu gerne allgemeingültige und verlässliche Antworten, die uns aus der Gewissensnot befreien, in die wir angesichts widerstreitender Lebensansprüche geworfen werden. Dies hat nach Schweitzer Tradition: „In der Geschichte der Ethik waltet geradezu eine Angst vor dem Nichtreglementierbaren.“15 Unser alltäglicher Lehrmeister, der sog. „gesunde Menschenverstand“, sagt uns: Halte dich an das Nächstliegende und lebenspraktisch Erforderliche; was die meisten tun, wird schon richtig sein.

In Wirklichkeit ist er „abgestumpfter“ Menschenverstand, der uns „die gefährliche Kunst des Maßhaltens im Denken“ lehrt und zuflüstert, „in der Bahn des gewöhnlichen Dahinlebens“ und der „Gedankenlosigkeit“ zu verbleiben. Zu gerne hält er gebrauchsfertige Handlungsanweisungen für uns parat, die unsere Verantwortung relativ auf zurechenbare Situationen begrenzen.

Wahrhaftes Denken wird nicht umhinkönnen, jedem Lebewesen, welcher Art auch immer, uneingeschränkte Ehrfurcht entgegenzubringen. Vor dem Richterstuhl eines solchen Denkens brechen alle unsere Bemühungen, unser Tun und Lassen an überschaubaren Ordnungen, griffigen Regeln, Tugendkatalogen und vorgezeichneten Bahnen auszurichten, wie ein Kartenhaus zusammen.

„Die Ethik ist nicht ein Park mit planvoll angelegten und gut unterhaltenen Wegen, sondern eine Wildnis, in der jeder, von seinem Pflicht- und Verantwortungsgefühl angetrieben und geleitet, seinen Pfad suchen und bahnen muss“.16

Daher kann und will sie dem Einzelnen die freie und verantwortliche Entscheidung in jeder Situation, in der seine Hilfe und Hingabe gefordert ist, nicht abnehmen. Sie stellt uns immer neu in den Konflikt „zwischen innerer Nötigung zur Hingabe und notwendiger Selbstbehauptung“.17

Oder mit anderen Worten Schweitzers:

„Es ist somit Sache eines jeden von uns, darüber zu entscheiden, ob er auf Grund einer unvermeidlichen Notwendigkeit Lebewesen zum Leiden oder zum Tode verurteilt und dadurch schuldig wird. Einige Sühne für solche Schuld leistet derjenige, der sich auferlegt, keine Gelegenheit zu versäumen, um in Not befindlicher Kreatur beizustehen.“ 18

Es geht also nicht darum, möglichst elegant und ungeschoren aus den Konflikten herauszukommen, sondern sich diesen bewusst zu stellen. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben „tut die Konflikte nicht ab, sondern zwingt ihn (den Menschen), sich in jedem Falle selber zu entscheiden, inwieweit er ethisch bleiben kann und in wie weit er sich der Notwendigkeit von Vernichtung und Schädigung von Leben unterwerfen muss.

Schweitzer hat die Ethik von jeglicher normativer Bevormundung befreit. Als einzigen Maßstab lässt er die Ehrfurcht vor dem Leben gelten. Sie ist der einzig verlässliche, absolut und universell gültige „Kompass“, der unserem frei verantwortlichen Entscheiden und Handeln Orientierung geben kann.

4. Lassen Sie mich noch ein Problem ansprechen, das sich im Zusammenhang mit der bislang gepriesenen individuellen Verantwortung notgedrungen stellt. Solange wir in persönlicher Verantwortung handeln, mag es noch angehen, sich im Konfliktfall frei, dem Ehrfurchtsprinzip folgend, zu entscheiden. Wir stehen aber zugleich auch in einer überindividuellen, gesellschaftlichen Verantwortung. Wie beurteilt Schweitzer das Verhältnis des Einzelnen zur Allgemeinheit?

Im beruflichen wie im sonstigen öffentlichen Leben kollidiert das Ehrfurchtsprinzip nicht selten mit gesetzlichen Vorgaben oder institutionellen Maßgaben. Wir sehen uns mitunter gezwungen, gegen das Wohl des Einzelnen zugunsten allgemeiner Interessen zu entscheiden. Ein Beispiel: Ein Geschäftsführer bringt den unbedachten Griff einer Kassiererin in die Kasse zur Anzeige, obwohl er weiß, dass dieser dann gekündigt wird und folglich ihre Wohnung nicht mehr halten kann, in der sie ihre kranke Mutter pflegt.

„Je umfassender das Wirken eines Menschen ist, desto mehr kommt er in die Lage, seiner überpersönlichen Verantwortung etwas von seiner Menschlichkeit opfern zu müssen.“19

Wir unterliegen der Versuchung, unser ethisches Empfinden unter dem Druck der kollektiven Verantwortung zu relativieren. Damit aber laufen wir Gefahr, so Schweitzer, unmerklich in eine „Pseudoethik“ abzugleiten.20

„Geistige Macht haben wir nur, wenn die Menschen uns anmerken, dass wir nicht kalt nach ein für allemal festgelegten Prinzipien entscheiden, sondern in jedem einzelnen Falle um unsere Humanität kämpfen“.21

Nur dann, wenn wir im Dienste der Gesellschaft stehend nicht als „Vollstrecker allgemeiner Interessen“, sondern aus der Gesinnung der Humanität handeln, bewähren wir uns als „Freie“.22 Nur auf dieser Basis lässt sich eine ethische Kultur begründen.

Wir geben unsere Freiheit auf, wenn unser persönliches Ehrfurchtsempfinden vor dem abstrakten Kollektivinteresse abdankt. Wir können unsere Freiheit aber auch dann nicht bewahren, wenn wir uns aus der öffentlichen Verantwortung in die reine Privatsphäre zurückziehen. Wahrhaft Freie sind wir nur, wenn wir als Menschen am ethischen Fortschritt von Gesellschaft und Kultur mitwirken. Dies schränkt nicht etwa unsere persönliche Freiheit ein. Im Gegenteil:

„Je freier wir sind, desto mehr gehören wir der Öffentlichkeit an und desto größer sind unsere Verantwortungen ihr gegenüber.“23

Anders gesagt: Je mehr wir aus dem egoistischen Selbsterhaltungstrieb heraustreten, desto mehr sind wir fähig, in tätiger Freiheit dem Leben zu dienen. Dies tun wir wiederum nur dann, wenn wir in der Hingebung an die Gesellschaft ihr nicht nur in Unterworfenheit, sondern zugleich als Freie dienen, die mit ihrer Humanitätsgesinnung auf sie gestaltend einwirken.24

Auch hier muss jeder von Fall zu Fall ermessen und selbst verantworten, wie weit er den Zwang der Notwendigkeit gegeben sieht, gesellschaftlichen Forderungen zu folgen oder was er an seiner Menschlichkeit bewahren kann.

Nur eines sollten wir nicht erwarten: Dass die Gesellschaft kraft institutioneller Machtvollkommenheit von sich aus Humanität verwirklicht. Staat und Gesellschaft können für eine „freie Kultur“ nur förderliche Rahmenbedingungen schaffen; aber machen können sie diese nicht.25

Eine Humanisierung der Lebensverhältnisse ist nicht von oben, durch institutionelle oder gesetzliche Regularia, zu erreichen, sondern kann nur von unten, nur über die vielen Einzelnen, die von der ethischen Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben erfüllt sind, erwirkt werden.

Diesen Leitgedanken hat Schweitzer einmal sehr anschaulich ins Bild gesetzt, womit ich meine Ausführungen beschließe:

„Wenn im Frühjahr das welke Grau der Wiesen dem Grün Platz macht, so geschieht dies dadurch, dass Millionen von Trieben aus den Wurzeln neu sprossen. Also auch kann die Gedankenerneuerung, die für unsere Zeit kommen muss, auf keine andere Weise zustande kommen, als dass die Vielen ihre Gesinnungen und Ideale aus dem Nachdenken über den Sinn des Lebens und den Sinn der Welt neu gestalten.“26

  1. Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie. Band I: Verfall und Wiederaufbau der Kultur, Band II: Kultur und Ethik, München 2007, S. 15.
  2. Ebd., S. 32.
  3. Ebd., S. 314.
  4. Ebd., S. 326.
  5. Vgl. Ebd., S. 47.
  6. Schweitzer, Albert: Wir Epigonen, S. 221.
  7. Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie Bd. 1, S. 47.
  8. Ebd., S. 55.
  9. Ebd., S. 22.
  10. Schweitzer, Albert: Menschlichkeit und Friede, S. 198.
  11. Schweitzer, Albert: Aus meinem Leben und Denken, S. 173.
  12. Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie Bd. II, S. 317 (Kursivst.v.m.).
  13. Ebd., S. 308.
  14. Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie II, S. 318.
  15. Ebd., S. 290.
  16. Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie III. Dritter und vierter Teil, S. 274.
  17. Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie II, S. 315.
  18. Schweitzer, Albert: Menschlichkeit und Friede, S. 115.
  19. Ebd., S. 323.
  20. Vgl. Ebd., S. 324.
  21. Ebd., S. 325.
  22. Vgl. ebd., S. 326.
  23. Schweitzer, Albert: Wir Epigonen, S. 200.
  24. Vgl. Schweitzer, Albert: Wir Epigonen, S. 216.
  25. Vgl. Schweitzer, Albert: Wir Epigonen, S. 251.
  26. Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie Bd. 1, S. 70.