Rezension: Der lachende Löwe (Buch)

Ohne Ehrfurcht vor dem Leben hat die Menschheit keine Zukunft – über Reinhard Griebners Buch „Der lachende Löwe“

Rezension von Hartmut Kegler

Unter den zahlreichen Schriften, die das Leben, Denken und Wirken des Menschen würdigen, den man ein „Genie der Menschlichkeit“ hieß, verdient dieses Buch von Reinhard Griebner besondere Wertschätzung. Dies meine ich nicht nur, weil es selbst für denjenigen, der sich schon eingehend mit dem Thema beschäftigt hat, viel Neues mitteilt, sondern weil es zudem mit viel Herz geschrieben worden ist. Die Erkenntnisse eines umfangreichen Quellenstudiums verschmelzen mit eigenen Gedanken und Vorstellungen des Autors zu einem Text, den man mit Spannung, Gewinn und zuweilen auch mit einem Schmunzeln aufnimmt. Das Buch vermittelt nicht nur Wissen, sondern bewegt auch innerlich zutiefst. Einfühlsam teilt der Autor mit, was in dem „Urwaldarzt“ gedanklich vorgegangen sein könnte, als er zu dem Entschluss kam, von seinem 30. Lebensjahr an unmittelbar menschlich dienen zu wollen. „Wie dürfen wir uns die Szene vorstellen, in der jener Gedanke bei ihm Besitz ergriff“, fragt Griebner und kommt auf die mathematische Formel, nach der Summand plus Summand die Summe ergibt: Die Not anderer und das erfahrene eigene Glück verpflichten zu Dankbarkeit und Weitergabe. Denn seine glückliche Kindheit und Jugend betrachtet Schweitzer als Kredit, den er zurückzuzahlen hat. Dabei bildeten als „Brandbeschleuniger“ die Worte Jesu: “ … wer sein Leben verliert um meinet- und des Evangeliums willen, der wird es behalten“. So begibt sich Schweitzer auf seine „Reise ohne Rückfahrschein“. Als ihn sein berühmter Orgellehrer Charles Marie Widor von dem Vorhaben abbringen will, entgegnet er ihm: „Die Macht des Ideals ist unberechenbar.“

Das Wagnis „Afrika“ erscheint berechtigt, da Schweitzer die hierfür notwendigen Voraussetzungen besitzt: Er ist gesund, hat seine Nerven unter Kontrolle, ist bedürfnislos, meidet Alkohol, ist energiegeladen und zäh. Zudem stehen seine Absichten im Einklang mit seinen Vorstellungen von Nächstenliebe und Barmherzigkeit, die für ihn das Wesen des Christentums bedeuten.

Schweitzer sieht sich nicht als Neigungsmensch, sondern versteht sich als ein Mensch der Pflicht und der individuellen Tat, aber auch als ein Abenteurer, wie sie die Welt so nötig hat. Er wollte nicht mehr darüber predigen, was zu tun sei, sondern tun, was er bisher gepredigt hat, was man manchem nicht nur geistlichen „Prediger“ auch heute empfehlen könnte! Als er sich als Dreißigjähriger in der medizinischen Fakultät zu Straßburg einschreiben will, möchte man ihn am liebsten in die Psychiatrie überweisen!

Berührend wird auch die erste Begegnung Alberts mit dessen späteren „treuesten Kameraden“ beschrieben: Helene Bresslau, deren ausdrucksvolle Augen ihn wohl fasziniert haben, die ihm an Schlagfertigkeit und Bildung ebenbürtig war, der aber als Pädagogin für den elsässischen Dialekt ihres Tischherrn die Begeisterung fehlte. Später glaubt sie bei der Begegnung am Ufer des Rheins nicht richtig gehört zu haben, als Albert ihr mitteilt, dass er nie heiraten werde. „Aber ich mag Sie so schrecklich gern, Helene, dass ich Sie bitten möchte: Wollen Sie nicht bis ans Ende unserer Tage meine Freundin sein?“ „Wenn Sie mich einmal brauchen“, antwortet Helene, „versprechen Sie mir, dass Sie mich rufen?“ Sie blieben trotz vieler Schicksalsschläge ihren Versprechen treu.

Immer wieder flicht der Autor geschickt fiktive Interviews in die übersichtlichen Kapitel des Buches ein: Seine Fragen lässt der Autor durch authentische Zitate des Doktors beantworten. Dadurch erfährt der Leser, was Schweitzer wirklich zu den Themen „Deutsch ist meine Muttersprache“, „Ich bin dein Bruder, aber dein älterer Bruder“ oder „Ehrfurcht vor dem Leben“ dachte.

Beim schweren Beginn als Tropenarzt am Ogowe war er lange Jahre auf Hunderte von Kilometern der Einzige, der helfen konnte. Dabei genoss er selbst viel Vertrauen und Zuspruch der vielen Patienten, weil er sie in deren Anderssein respektierte und ihre Sitten und Gebräuche – mit Ausnahme des Kannibalismus – gelten ließ.

Der Ausbruch des 1. Weltkrieges brachte für Schweitzer zunächst die Höchststrafe: Er durfte nicht mehr als Arzt praktizieren. Seinen Ausweg fand er dadurch, dass er sich der Frage nach der Zukunft der Menschheit zuwandte, Recht und Unrecht, gut und böse, Ideal und Wirklichkeit, kurz: das Problem der Kultur durchdachte und schließlich im Verlaufe dieser Denkarbeit das berühmte Wort von der „Ehrfurcht vor dem Leben“ fand. Bewegend wird die Szene beschrieben, in der Schweitzer eine afrikanische Mutter tröstet, deren Sohn soeben zum Kriegsdienst abgeholt worden war: „Plötzlich fühlte ich, dass ich mit ihr weinte, lautlos in die untergehende Sonne weinte wie sie.“

Bei der Heimkehr von ihrem ersten Afrikaaufenthalt erlebten Albert und Helene den Kontrast zwischen der „Augenweide in der blühenden, neutralen Schweiz“ und den vom Krieg verwüsteten Ortschaften und Wäldern im Elsaß, was sicher ihren Weg zu einer pazifistischen Lebenshaltung bereitete.

Das Tor in ein neues Leben nach dem Krieg stößt für beide ein Aufenthalt in Schweden auf, wohin Albert Schweitzer auf Einladung des dortigen Erzbischofs Nathan Söderblom eingeladen wurde, um Vorträge über die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben zu halten und Orgelkonzerte zu geben. Hier können sie wieder seelisch genesen und zugleich ihre während des Krieges angefallenen Schulden bei der französischen Missionsgesellschaft begleichen.

Während der Reise zu seinem erneuten Aufenthalt in Afrika beschreibt Griebner Gedanken Schweitzers, die ihm beim Betrachten des nächtlichen Himmels zu unserer irdischen Existenz wohl durch den Kopf gegangen sind: “ … dass wir auf einer kleinen Kugel inmitten unzähliger Welten daher treiben! … Wie nichtig erscheint da das Treiben der Völker und der Ehrgeiz der Menschen“. Das empfindet mancher auch heute.

Beim Aufbau des zweiten Spitals erinnert der Autor an die Vielseitigkeit des „Oganga“: „Der Landwirt Schweitzer arbeitet mit dem Polier Schweitzer Hand in Hand und beide sehen mit Interesse jenen Plänen entgegen, die der Architekt Schweitzer den Weggefährten in Kürze eröffnen wird. Nur der Arzt Dr. Schweitzer kommt in diesen Wochen nicht zum Zuge, wie er glaubt, es sich, seinen Patienten und den Kollegen schuldig zu sein.“ Wie oft fühlte sich doch Schweitzer bei der schweren Arbeit an Goethes Faust erinnert, der nach dem Willen seines Schöpfers dem Meere Land abgewinnt, damit die Menschen darauf wohnen und Nahrung finden können, worauf er auch in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Goethepreises der Stadt Frankfurt hingewiesen hat.

Dass ihn sein treuester Kamerad Helene nunmehr nicht begleiten konnte, bedrückt beide sehr. So versucht er sie in Briefen aufzumuntern, indem er ihr auch heitere Geschichten aus seinem Alltag übermittelt: Bei einem landwirtschaftlichen Leistungsvergleich in Lambarene erzielt Albert sogar den ersten Preis bei der Bewertung seiner Ziegen. Das Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften wurde bester Ziegenzüchter, schreibt er ihr!

Einen interessanten Einschub bietet der Autor auch mit einem schicksalhaften Vergleich von Daten, dem 22. März: An diesem Tag wurde im Jahr 1848 Alberts Schwiegervater Harry Bresslau geboren, schworen sich Albert und Helene im Jahr 1902 am Rheinufer ewige Freundschaft, reisten beide 1913 von Straßburg nach Afrika ab, musste Albert auf einer Schiffsreise nach Afrika im Jahr 1924 Geburtshelfer spielen und hielt er 1932 zum 100. Geburtstag Goethes die Gedenkrede, die er im Blick auf den heraufziehenden Nationalsozialismus mit den mahnenden Worten beschloss: „Gebt die Ideale des persönlichen Menschentums nicht auf!“ Und am 22. März 1944 wurde das Geburtshaus Johann Wolfgang von Goethes durch alliierte Bomben zerstört …

Verdiente Würdigung findet Helenes Wirken für Lambarene in Europa und Amerika, die auch in der Presse wie der „Badischen Zeitung“ zum Ausdruck kommt. Sie beschreibt, wie „die sitzende Frau in einer wahrhaft wunderbaren Weise über Länder und Meere hinweg mit ihrem wieder in den Urwald an seine Lebensaufgabe zurückgekehrten Manne verbunden ist.“

Der Zweite Weltkrieg bringt Schweitzer und sein Hospital erneut in große Not und Gefahr. Wie hilfreich waren da die dringend benötigten Medikamente, die von einer wohltätigen Vereinigung in den USA beschafft worden waren. Damit begann auch jene Saat aufzugehen, die Helene mit ihrer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten in den Boden gebracht hatte.

In den 1950er Jahren wurde nun Schweitzer für die schreibende und sendende Zunft zum Mythos: „Heiliger des Urwaldes“ nannte man ihn und „Humanist mit goldenem Herzen“, „dreizehnter Jünger Jesu“ waren nur einige der ihm von Journalisten verliehenen Titel. Den Beinamen „Der lachende Löwe“ verdankt er seinem Freunde Romain Rolland. Einer seiner Bewunderer bringt die Verehrung mit einem Satz auf den Punkt: “ … weil er so handelt, wie wir alle handeln sollten!“

Nachdem Schweitzer in Oslo 1954 der Friedensnobelpreis verliehen wurde, mahnte er in seiner Dankesrede die Menschheit mit Worten, die heute so aktuell sind wie damals: „Weil offenbar ist, ein wie furchtbares Übel ein Krieg in unserer Zeit ist, darf nichts unversucht bleiben, ihn zu verhindern.“ Doch der inoffizielle Höhepunkt der Preisverleihung war sicher für beide, Albert und Helene, das Lichtermeer der Fackeln, mit dem dreißigtausend Menschen vor dem Rathaus dem Ehepaar für ihr humanistisches Lebenswerk dankten.

Der Geist der Ehrfurcht vor dem Leben ist natürlich auch der Geist des Friedens. So war es folgerichtig, dass Schweitzer – allerdings erst nach eindringlichen Bitten und Drängen ehrbarer Persönlichkeiten sowie nach reiflichem Überlegen – sich öffentlich gegen die Politik des „Kalten Krieges“ wandte und in Appellen an die Menschheit und die Regierungen seine Stimme erhob. Nicht belehren wollte er die Menschen, sondern aufklären, in welcher Gefahr sie sich im „Gleichgewicht des Schreckens“ eigentlich befinden. Das brachte ihm nicht nur Zustimmung, sondern ebenso Beschimpfungen und Bosheiten ein. Er schrieb Briefe an Kennedy und Chruschtschow und wirkte daran mit, dass ein Abkommen zum Verbot von Atombombentest in der Luft, im Wasser und im Weltraum unterzeichnet werden konnte, das bis heute gilt.

Seinen Lebensweg beschließt der alte Mann mit einem Dank an alle, die mit ihm gemeinsam das Spital errichtet und betrieben haben. Nach seinem Tode hört seine Enkeltochter Christiane eine afrikanische Frau zu ihrer Nachbarin sagen: „Weißt du, im Himmel sitzen jetzt zwei alte Männer, der liebe Gott und der Doktor.“

Dieses wunderbare Buch gibt Hoffnung! Ich bin sicher: Wenn es dereinst mit unserer Kultur wieder aufwärts geht, wird die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, ohne die unsere Menschheit keine Zukunft hat, eine Art geistiger Kompass sein und, wie Peter Münster es in seiner ebenfalls wertvollen Schweitzer-Biografie zum Ausdruck brachte, auch für junge Menschen ein Ideal werden, dem es sich zuzuwenden lohnt. Der Name Albert Schweitzer bleibt deshalb unvergessen. Das verbürgt beeindruckend „Der lachende Löwe“.

Reinhard Griebner: Der lachende Löwe. Morio Verlag Heidelberg. 2014. 342 Seiten.