Das Leitmotiv für Albert-Schweitzer-Schulen

In Deutschland gibt es etwa 200 Schulen, von denen die meisten den Namen „Albert Schweitzer“ schon sehr lange tragen, weil sie noch zu Lebzeiten mit ihrem Namenspatron in Kontakt standen und sich an der „Ehrfurcht vor allem Leben“ orientieren wollten. Welche Bedeutung hat diese freiwillig gewählte Entscheidung eigentlich heute noch für diese Schulgemeinschaften?

Albert Schweitzer fragte sich immer wieder auf welche Weise die Ehrfurcht vor allem Leben sich in der Welt durchsetzen und zu einem Fundament werden könne. Aus einer deutschen Schule kam die Antwort.

Welche fundamentale Bedeutung diese Antwort für Albert Schweitzer selbst hatte, davon zeugt seine Rede vom 3. Oktober 1959 in der Hamburger Namensträgerschule, als er aus der Tiefe seines Herzens spricht:

„Nur einige wenige Worte kann ich antworten auf alles, was gesagt wurde, auf alles, was gesungen wurde — in tiefer Ergriffenheit. Es war mir bestimmt als Schicksal, dass ich mich mit dem beschäftigen sollte, was in unserer Zeit vorgeht. Es war mir bestimmt, schon um 1900 betroffen zu werden durch das Abnehmen des Geistes der Humanität in unserer Kultur. Und diesem Problem nachgehend, bin ich denn zur Erkenntnis gekommen, dass das Humanitätsideal, das die große deutsche Philosophie uns gegeben hatte und der ganzen Welt, so, dass wir glaubten, gefestigt zu sein wie in Erz gegossen, dass es kraftlos geworden war in unserer Kultur.

Und dann haben wir es erlebt, dass der Geist der Inhumanität aufkam, uns überraschte, uns wehrlos machte und triumphierte in furchtbarem Krieg und in Erlebnissen, die wir heute uns überhaupt nicht mehr vorzustellen wagen.

Da habe ich mich gefragt, wie war das möglich?

Und zuletzt, aus vielen Erwägungen, bin ich dazu gekommen mir zu sagen: es hilft nichts, dass wir den alten Geist wieder wachrufen wollen; das Humanitätsideal erwies sich als zu schwach, weil die Ethik, auf der es beruhte, keine tiefen und großen Wurzeln hatte. Das Humanitätsideal ist eine Weltanschauung, und die Ethik war noch keine Weltanschauung, sondern war nur die Vorstellung von dem geistigen Verhältnis, das zwischen den Menschen bestehen sollte. Es kam mir immer vor, als ob die Ethik ein Akkord wäre, der in der Luft hing.

Wie wird die Ethik zu einem Fundament der Weltanschauung? Wenn sie sich auf die ganze Welt bezieht, wenn sie unser geistiges Verhältnis zur Welt bildet und aufbaut. Das tut sie nur, wenn sie uns zeigt, wie wir mit allen Wesen in Verbindung stehen. Wie die Woge in dem Meere mitwogt mit allen Wogen, müssen wir das Leben, das um uns herum sich abspielt, das in Not ist, das in Angst lebt, mit erleben in unserem Leben. Dann haben wir eine Ethik die eine Weltanschauung bedeutet und tragen kann. Und so wagte ich denn den Gedanken auszusprechen, dass die Grundvorstellung, auf der das Gute beruht, die Ehrfurcht ist vor allem Leben, als dem großen Geheimnis, in dem wir uns mit der ganzen Kreatur befinden.

Dann habe ich mich gefragt: wie wird das einmal sich können unter den Menschen verbreiten, was wir in unserem Zustand so notwendig haben, um wieder das zu werden, was wir einst werden wollten, eine Kulturmenschheit?

Und in der Ferne lebend, habe ich das Schicksal der Völker die jetzt aus der Abhängigkeit zur Unabhängigkeit kommen und sich selber geistig auch entwickeln müssen, mir vorgestellt und mich gefragt: woraus werden denn diese zu einer Kultur, wo wir in der Kulturlosigkeit leben? Und immer wieder habe ich mir gesagt, sie müssen etwas von uns empfangen denn wir haben eine große geistige Vergangenheit, die nicht ausgelöscht werden kann, auch nicht durch das, was sich nun ereignet hat, sondern wir aus der alten Welt haben allen Völkern der neuen Welt zu helfen. Wir haben ihnen Leben zu bringen und nicht immer nur von ihnen zu nehmen.

Und da habe ich mich gefragt, wie kann denn diese Ethik sich einmal in der Welt durchsetzen und zu einem Fundament für eine Weltanschauung werden?

Aus einer deutschen Schule kam die Antwort.

Da fragten einige Lehrer an, ob sie ihre Schule Albert— Schweitzer—Schule nennen könnten. Nun, warum nicht, habe ich gedacht, wenn es ihnen Freude macht. Der Schule habe ich dann gedankt und habe geschrieben: mögen alle Schüler, wenn sie später an ihre Schule zurückdenken, in Dankbarkeit der Lehrenden gedenken, wie ich meinen Lehrern im Gymnasium in Mühlhausen mein Leben hindurch Dankbarkeit für alles bewahrte, was ich von ihnen empfangen habe. Mögen die, die an dieser Schule zu lehren das Privileg haben, nicht nur Kenntnisse vermitteln, sondern auch in der Entwicklung zum Menschen wahre Erzieher sein. — Also gut, das schrieb ich. — Bald kam eine andere Schule, bald drei, bald fünf, bald sieben — und immer schrieb ich dies. Bis ich mir plötzlich sagte: aber das ist ja der Weg! Über die Schule wird es gehen! Schon in der Schule muss die Jugend bekannt werden mit dem Gedanken der Ehrfurcht vor allen Lebendigen. Dann wird sich ein Geist entwickeln können, der von ethischer Verantwortung getragen ist und viele Menschen ergreift. Dann dürfen wir uns eine Kulturmenschheit nennen.

Und da bin ich nun in Eure Schule gekommen.

Ich werde Euch immer dankbar sein, dass Ihr mich das hier heute erleben ließet, statt etwa einfach eine Führung durch Eure Räume zu unternehmen und eine Aufzählung von den und jenen Verteilen des Hauses. Das habe ich nämlich schon oft erlebt: dies hier ist der Musiksaal und das ist die Turnhalle. Als mir die Einladung wurde, nach Hamburg zu kommen, da habe ich zugesagt und ich dachte, man werde mich auch hier durch die Schule führen.

Es ist ganz anders geworden. Ich bin mit ihrem Geist bekannt geworden. Ich durfte es erleben, ausgesprochen zu hören, was ich dunkel gewollt und dunkel erhofft hatte. Und so wird es mir ein Erlebnis bleiben, dass ich Bekanntschaft gemacht habe mit der Albert—Schweitzer—Schule in Hamburg und ich bin dankbar, dass ich das erleben durfte. Und es wird mich ermutigen; denn wenn man ein Leben führt wie ich, braucht man Ermutigung. Es ist ermutigend, dass man weiß, es gibt Menschen, die dafür leben und unbeirrbar dafür kämpfen, dass der Geist der tiefen Ehrfurcht vor allem Lebendigen bestimmend wird unter den Menschen und dass Idealen gefolgt wird, die uns aus unserer Zeit hinausführen in eine neue Zeit hinein. Dass die Schule an diese Ideale glaubt, und dass sie in ihnen lebt und daraus lehrt, das habe ich in dem, was gesagt wurde und wie es gesagt wurde und wie ihr musiziert habt, erleben dürfen.

Tausend Dank! Ich möchte keinen Augenblick von diesem Erlebnis vermissen.”

(Nach einer vom Vortragenden nicht durchgesehenen Nachschrift)

Am 10. Oktober 1963 schrieb Albert Schweitzer auf Bitte der Schulleiterin Erna Stahl einen Brief an alle Schülerinnen und Schüler der Schule:

Lambarene 10 Okt. 1963.

Liebe Schüler
! Bleibet immer Menschen, die tief menschlich sein wollen und ihr Herz immer mitsprechen lassen. Prüfet immer euer Wissen und Können, ob es auf die Ziele gehen die euch vor der Erstarrung eures Wesens bewahren. Trachtet nach der wahren Gültigkeit in eurem Tun und Wirken…. Solches wünsche ich euch allen. 
Herzlich Euer Albert Schweitzer

Wir danken dem Albert-Schweitzer-Gymnasium in Hamburg für die freundliche Erlaubnis zur Veröffentlichung dieses Textes!