Bioethik-Projekt Montessorischule Hofheim

Ulrike Müller: Ist das Leben verfügbar?

Ein fächerübergreifendes Ethik-Projekt an der Montessori-Schule Hofheim am Taunus in der Sekundarstufe II (Bericht)

Ende Januar 2019 haben wir in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsches Albert-Schweitzer-Zentrum Frankfurt am Main an unserer Schule mit den Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufen 11-13 ein fächerübergreifendes Projekt im Schnittfeld der Fächer Biologie und Ethik durchgeführt. Im Zentrum standen zunächst Fragen aus dem Bereich der Medizinethik, die weiterführend in grundsätzliche ethische Problemstellungen mündeten. Unter der Fragestellung „Ist Leben verfügbar?“ wurden diverse Themengebiete der Medizinethik, im speziellen der Gentechnik, aber auch der Tierethik aufgegriffen: Sind die modernen Möglichkeiten gentechnischer Eingriffe ins menschliche Genom ethisch vertretbar? Welche ethischen Bedenken gibt es gegen die Präimplantationsdiagnostik? Oder: Was ist eigentlich „Leben“? Dient „Forschung“ dem Fortschritt? Nicht nur seitens des Biologieunterrichts waren die Schülerinnen und Schüler für die Problematik der Gentechnik sensibilisiert. Auch im Fach Englisch und Deutsch wurde hierzu vorgearbeitet: Der Grundkurs Englisch las „Double Helix“ von Nancy Werlin, in Deutsch erarbeiteten die Schüler das Werk von Juli Zeh „Corpus Delicti“. Um nun eine ethische Argumentationsbasis zur Beurteilung dieser Problembereiche zu gewinnen, habe ich mich über die Dauerausstellung des Albert Schweitzer-Zentrums Frankfurt/M. „Albert Schweitzer – grenzenlose Menschlichkeit im Denken und Handeln“ mit Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben vertraut macht und zusätzlich dort empfohlene Publikationen zurate gezogen. Schließlich fand ich in Herrn Dr. Gottfried Schüz, dem Vorsitzenden der Stiftung Deutsches Albert-Schweitzer-Zentrum, einen ausgewiesenen Kenner des Schweitzerschen Lebenswerks, der die genannte Dauerausstellung konzipiert hat. Dr. Schüz erlebte ich als einen ehrenamtlich engagierten Ethiker, der sich auch mit unserer fraglichen Thematik in Vorträgen und Publikationen auseinandergesetzt hat. Auf meine Anfrage sagte er uns spontan und vor allem mit freudigem Interesse zu, an unserer Schule zur Ethik Schweitzers einen Einführungsvortrag zu halten – trotz eines vollen Terminplans, den er angesichts der zahlreichen Veranstaltungen anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Albert-Schweitzer-Zentrums und der 60-jährigen Ehrenbürgerschaft Schweitzers in diesem Jahr durch die Organisation vieler Veranstaltungen hat. Als Termin wurde der 29.1. festgehalten, ein Zeitpunkt, wo die Notengebung für das erste Halbjahr abgeschlossen war, die Zeugnisse aber noch nicht ausgegeben waren; eine Phase also, in der Schüler sich gerne ein wenig zurücklehnen, um neue Stürme abzuwarten und die Motivation erfahrungsgemäß eher auf ein entspannendes Spiel (vorzugsweise Stadt-Land-Fluss) abzielt. Für den Ablauf und die Aufgabenstellungen unseres Bioethikprojekts „Ist Leben verfügbar?“ ergab sich rasch der – zugegeben – enge Zeitplan:

8.20 – 9.05 h Impulsvortrag von Herrn Dr. Gottfried Schüz: Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben als Modell für den Umgang mit ethischen Konflikten

bis 9.30 h Einwahl in die Arbeitsgruppen, Material wählen, Vorlagen kopieren u.ä.

9.30 – 11 h Erarbeitung der Themen, Pausen dürfen selbst gewählt werden

11.00 – 11.45 h Plenum: Vorstellen der Ergebnisse und Austausch.

Nun muss man wissen, dass der normale Schulalltag (8.20- 11.45 h) eine 25-minütige Pause von 9.50 – 10.15 h vorsieht. Wie würden die Schüler damit umgehen?

Der Impulsvortrag von Dr. Schüz war so lebendig, dass das Zuhören auch im engen Seminarraum von allen 65 Stühlen aus aktiv war. Zitate lässiger Einträge aus dem Gästebuch im Museum Frankfurt zur Person Schweitzers („Albert Schweitzer rockt“, „coole Socke“ „so will ich auch sein“) gingen über in die Erzählung biographischer Schlüsselerlebnisse hin zu den gelebten ethischen Konflikten in Lambarene, so dass das theoretische Modell der „Ehrfurcht vor dem Leben“ mit der Maxime: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ mit seinem Modell ethischen Entscheidens nicht mehr trocken oder zu abstrakt war. Man sah den Gesichtern die innere Beteiligung an, entstehende Fragen spiegelten sich und diese – durchweg kritischen – wollten sich unmittelbar Luft verschaffen („Darf man gleich etwas fragen?“).

Für die Arbeitsgruppen waren nicht nur 7 verschiedene Fragestellungen wählbar, sondern diese waren an unterschiedliche Arbeitsformen und Aufgabenformate geknüpft. So sollte neben Texterarbeitung und -auswertung auch textungebundene Diskussion, entdeckendes Recherchieren/Forschen sowie kreative Formen (eine dramaturgische Inszenierung) in der Auswahl stehen.

1. Arbeitsgruppe: Definieren Sie: Was ist „Leben“?

Aufgabe ist es, sich anzunähern an einen Begriff des Alltäglichen, der Spannungspotential birgt, da letztlich auch die Biologie als „Lehre vom Leben“ selbst nur die Eigenschaften der Manifestation von Lebendigem beschreiben kann, aber nicht, wie Leben sich bildet, geschweige denn, wie es erschaffen werden könne.

 

2. Arbeitsgruppe: Informieren, Nachvollziehen, Darstellen. Beispiel: Klonen: eine ethische Argumentation in der Bioethik (Fallanalyse) 

 

 

 

 

3. Arbeitsgruppe: Diskutieren Sie: Ist Forschung Fortschritt? Was bedeutet Fortschritt für Sie? Welche Forschung brauchen wir? Darf Forschung über Leben verfügen?

 

 

 

4. Arbeitsgruppe: Entwickeln Sie ein szenisches Spiel. Wunschkind oder Kinderwunsch? Präimplantationsdiagnostik (PID)- sollen wir über künftiges Leben bestimmen? –

Plot: Adam Nash und seine Eltern bzw. seine Schwester – oder Der „Lübecker Fall“

 

 

 

 

 

5. Arbeitsgruppe: Übernehmen Sie eine Rolle als Mitglied in einer Ethikkommission bzw. einer Person, die angehört wird: Soll das Projekt zur Stammzellforschung genehmigt werden?

 

 

6. Arbeitsgruppe: Vergleichen und bewerten Sie ethische Begründungen. Thema: Über Leben anderer Spezies verfügen: Tierethik.

Der pathozentrische Ansatz Peter Singers und der biozentrische Ansatz Albert Schweitzers.

7. Arbeitsgruppe: Verfassen Sie eine Empfehlung oder einen Vorschlag für Richtlinien zum Eingriff ins menschliche Genom.

 

 

 

 

Allen Arbeitsgruppen gab Dr. Schüz ein Thesenpapier zu Schweitzers Ethikkonzept als Grundlage für die kritische Auseinandersetzung mit ihren jeweiligen Problemstellungen an die Hand. Beobachten konnten wir

(Bild unten: Lehrerin Ulrike Müller im Gepräch mit Dr. Schüz):

  •  Tatsächlich fanden sich die Gruppen in etwa gleich starken Gruppengrößen zusammen: Stärken und Neigungen – etwa Bevorzugung des Mündlichen oder des Schriftlichen, Spontaneität oder Besonnenheit, expressiver oder sammelnder Zugang, schlugen sich in den Anforderungen nieder und passten sichtlich zum Potential dieser SchülerInnen.
  •  Auf eine Pause wurde weitgehend verzichtet bzw. wurde in sehr geringem Zeitumfang wahrgenommen. Es herrschte so reges Tun, ja Eifer, dass eine vorgegebene Pause eher störend gewirkt hätte. Das Angebot, das Lehrerkollegen stellten in Form von Kuchen oder Kisten mit Äpfeln wurde dankbar angenommen. Dies lockerte die Atmosphäre, wurde aber nicht missbraucht (etwa zu Streitigkeiten oder Verschmutzung des Arbeitsplatzes etc.)
  •  Jede Gruppe hat sich ganz auf die Arbeitsprozesse eingelassen und hatte in den knappen 90 Minuten präsentable Ergebnisse oder Fragestellungen entwickelt.
  •  Die SchülerInnen wahrten eine strenge Zeitdisziplin: ir konnten um 11.05 im Plenum starten, alle sieben Gruppen konnten gehört werden, und wir schlossen exakt um 11.45h.

 

Ergebnisse der Teams und feed-back nach dem Bioethik-Tag:

Die gewonnene komplexe Definition von „Leben“ machte unseren AbiturientInnen alle Ehre: sie hatten sowohl den physikalischen (ein lebendiger Organismus erhält eine unabhängige Ordnung der Teilchen aufrecht, die auf Energiezufuhr angewiesen ist) bis zu den biologischen Kennzeichen (Bewegung, Fortpflanzung, Stoffwechsel, etc.) auch die philosophische Frage im Blick: Leben scheint an ein Zusammenkommen eines Immateriellen, einer Kraft oder einem geistigen Prinzip mit einem physisch-materiellen Teil gekoppelt zu sein. Hier waren sie ganz nahe bei Schweitzers Denken.

Die Fallanalyse untersuchte Wertekonflikte und die Frage, ab welchem Zeitpunkt man von Entstehung menschlichen Lebens sprechen kann, woraus sich ein besonderer Schutzstatus ableitet (Argumente der Kontinuität, der Identität etc.). Die Schüler kamen zu dem Schluss, dass auch schon der befruchteten Eizelle das Prädikat „menschliches Leben“ zuerkannt werden müsse. Auch die kritische Untersuchung dessen, was Forschung leisten soll und kann, zeigte eine intensive Einarbeitung: noch kontrovers in einzelnen Fragen, war die Gruppe der Debattierenden darin einig, dass ethische Betrachtung und Forschung Schritt halten müsse mit der technisch-medizinischen Entwicklung, wenn nicht ihr vorausgehen müsse. Diese sei stärker zu fördern. Damit folgten die Schüler deutlich der Schweitzerschen Kritik an einem einseitig materiell ausgerichteten Fortschritt. Die Kernfrage müsse in Zeiten des Klimawandels und der fortschreitenden Naturzerstörung sein, was für das Menschsein wirklich wichtig ist, womit er das Leben erhält, und weniger, was noch möglich und machbar wäre bei weiterer Forschung. Die Theatergruppe sowie die „tagende Ethikkommission“ waren noch im Prozess des Entwickelns, zeigten abwägend die Argumente auf, die sie weiter in Dialog resp. einer Empfehlung umsetzen würden.

In der Frage, wie gehen wir mit den Tieren um?, sei die Begründung tierethischer Positionen mit der Leidensfähigkeit der Tiere wohl nachvollziehbar, sahen dieses Modell aber als unterlegen an gegenüber dem grundsätzlichen Gebot, Leben an sich zu achten. Singer stütze sich lediglich auf die Leidensfähigkeit als maßgebliche Begründung für die Schutzwürdigkeit des Tieres. Schweitzer ginge aber weiter. Er orientiert sich nicht nur am „Schmerz“, sondern an dem Grundsatz, dass alles Leben wertvoll und daher erhaltenswert sei. Schließlich zur Arbeitsgruppe hinsichtlich der Frage nach Richtlinien für die Gentechnik: Die Charta zur international konsensfähigen Selbstbegrenzung der Forschung am menschlichen Genom müsse vor allem die Unvorhersehbarkeit der Folgen solcher Eingriffe in die Waagschale werfen.

Einhellig wurde von den Schülerinnen und Schülern bemerkt, dass man gerne noch länger gearbeitet hätte, wenigstens noch eine Doppelstunde mehr, um noch intensiver miteinander ins Gespräch zu kommen.

Unterm Strich waren sie einhellig der Meinung, dass der Tag „interessant“ und „anregend“ war; auch kamen Bemerkungen wie, „das hat Spaß gemacht“ und „können wir wieder machen“. Die ursprüngliche Befürchtung, die Schülerinnen und Schüler könnten sich bei dem gewählten Zeitpunkt einige „bequeme Stunden“ machen, verkehrte sich eher ins Gegenteil.

Der lebendige Vortrag von Herrn Dr. Schüz wurde allgemein sehr gut aufgenommen („hat mir was gebracht“). So bleibt Schweitzers Ethik, die auf den Einzelfall anzuwenden ist und derzufolge jeder verantwortlich prüfen muss, was er im Notfall opfert um des Lebenserhalts willen oder um Leid zu ersparen, in Erinnerung. Auch der Aspekt des Schuldigwerdens und der daraus erwachsenden Wiedergutmachungspflicht bleibt sicher nachhaltig im Gedächtnis. Vor allem aber die Grundidee Schweitzers: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will und die Einsicht, dass jedes Leben gleich viel wert ist, dürfte sie in ihrem Köpfen und Herzen verankert haben. Seinerseits signalisierte Herr Dr. Schüz, dass er gerne wieder an unsere Schule käme, gerne auch zu den Jüngeren, den Grundschulkindern.

 

 

Dr. Schüz beim Impulsvortrag

 

 

 

 

Schülergruppen präsentieren ihre Arbeitsergebnisse: