Albert Schweitzer und der Erste Weltkrieg

Von Walter Schiffer

Der Große Krieg, der weite Strecken Europas verwüstete und allein 10 Millionen Soldaten das Leben kostete, reichte mit seinen katastrophalen Auswirkungen bis nach Lambarene. Nicht nur materielle Folgen hatten Albert Schweitzer und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu beklagen:

„Kriegsweihnachten im Urwald! […] Am vierten August, zwei Tage nach unserer Rückkehr von Kap Lopez, hatte ich einige Medikamente für eine kranke Dame in Kap Lopez bereitet und sandte Joseph nach einer Faktorei, um zu fragen, ob ihr kleiner Dampfer bei seiner nächsten Fahrt das Paket mit hinunternehmen könnte. Er brachte mir einen Zettel des Weißen: ‚In Europa ist Mobilmachung und wahrscheinlich schon Krieg. Wir müssen unsern Dampfer der Behörde zur Verfügung stellen und wissen nicht, wann es nach Kap Lopez fährt.‘

Wir brauchten Tage, bis wir die Tatsache, dass in Europa Krieg sei, wirklich realisieren. Seit Anfang Juli hatten wir keine Nachrichten aus Europa und wußten nichts von den Verwicklungen, die das unselige Ereignis heraufführten. […]

Letzthin, während wir miteinander Geschwüre verbanden, fing Joseph wie schon öfters, wieder an, über den Krieg als die Ursache der Teuerung zu lamentieren. ‚Joseph‘, sagte ich zu ihm, ‚du musst nicht so reden! Siehst du nicht, wie bekümmert die Gesichter der Missionare und das der Frau Doktor und des Doktors sind? Für uns ist der Krieg noch mehr als eine unangenehme Teuerung. Jeder von uns bangt für das Leben so und so viel lieber Menschen, und wir hören aus der Ferne das Stöhnen der Verwundeten und das Röcheln der Sterbenden.‘ Darauf schaute er mich erstaunt an. Seither merke ich, dass ihm damals etwas aufging, was ihm verborgen war.

Dass viele Eingeborene die Frage in sich bewegen, wie es möglich sei, dass die Weißen, die ihnen das Evangelium der Liebe bringen, sich jetzt gegenseitig morden und sich damit über die Gebote des Herrn Jesu hinwegsetzen, fühlen wir alle. Wenn sie uns die Frage stellen, sind wir hilflos. Wo ich … daraufhin angeredet werde, versuche ich nichts zu erklären, nichts zu beschönigen, sondern sage, dass wir vor etwas Unbegreiflichem und Furchtbarem stehen. Wie viel die ethische und religiöse Autorität der Weißen bei den Naturkindern durch diesen Krieg leidet, wird man erst später ermessen können. Ich fürchte, dass der Schaden gewaltig sein wird.“ 1

Im Jahr 1923 veröffentlichte Schweitzer seine Kulturphilosophie, die bereits in den ersten Weltkriegsjahren Gestalt gewann. Im ersten Teil dieses Werkes gab er der Philosophie die Schuld am Niedergang der Kultur und damit auch am Kriegsausbruch. Er sah ein generelles Versagen des Denkens und damit ein Ausbleiben des qualifizierten Nachdenkens über Kultur. Geistige und Wirtschaftsverhältnisse wirkten dergestalt aufeinander, dass sie die Menschen verkleinern und psychisch schädigen. Die ersten Sätze lauten:

„Wir stehen im Zeichen des Niedergangs der Kultur. Der Krieg hat diese Situation nicht geschaffen. Er selber ist nur eine Erscheinung davon. Was geistig gegeben war, hat sich in Tatsachen umgesetzt, die nun ihrerseits wieder in jeder Hinsicht verschlechternd auf das Geistige zurückwirken. Die Wechselwirkung zwischen dem Materiellen und dem Geistigen hat einen unheilvollen Charakter angenommen. […] Nun ist für alle offenbar, dass die Selbstvernichtung der Kultur im Gange ist.“ 2

So realistisch Schweitzer die Lage der Frontsoldaten 1914 im Gespräch mit Joseph einschätzte, so drastisch konfrontierte er die Hörer seiner Predigt am 1. Dezember 1918 in St. Nicolai:

„Zum fünften Mal nun in der Zeit, da der Herbst sich zum Winter neigt, wollen wir nicht nur der Toten gedenken, die starben, weil Alter, Krankheit oder Unglücksfall sie dahinraffte, sondern auch derer, die von Menschenhand im mörderischen Kriege fielen. Wie sind sie gestorben? Das Geschoß hat ihren Leib zerrissen und sie verbluteten, im Drahtgeflecht hingen sie wimmernd und schmachtend tagelang, ohne dass ihnen ein Mensch Hilfe bringen konnte; auf kalter Erde erfroren sie in der Nacht; eine Sprengladung verschüttete sie oder warf sie zerfetzt in die Luft; gurgelnde Wasser zogen das Schiff, auf dem sie fuhren, in die Tiefe; sie rangen mit den Wellen bis zur Erschöpfung oder stemmten sich im Schiffsraum eingeschlossen, in ohnmächtiger Angst gegen die Wände. Die, die nicht im Felde oder auf dem Wasser starben, gingen dahin, nachdem sie für Wochen und Monate alle Qualen im Lazarett erduldet und mit dem Leben um die Existenz eines Krüppels gerungen hatten. War es uns nicht in diesen bangen Monaten, wenn es still und dunkel um uns war, als hörten wir ein Jammern und Klagen von der Erde zum Himmel steigen? Wir wollten uns davor verschließen, aber es half nichts, es klang dennoch in unser Ohr.

Nun gehört dieses Weh der Vergangenheit an, sie haben ausgeduldet, die Menschen, die von Menschenhand litten und starben. Gott hat abgewischt die Tränen von ihren Augen, und Leid und Geschrei und Schmerz sind nicht mehr für sie.

Wie wollen wir ihr Gedächtnis feiern? Seid ihr schon hinter dem Sarg eines Menschen, der für euch ein Stück Leben bedeutete, dahingegangen und habt da im plötzlichen Entschluß euch mit diesem, dem Leben schon Entrückten, durch ein Gelöbnis verbunden, indem ihr den Entschluß faßtet, im Gedenken an ihn hinfort etwas zu meiden oder zu tun? So glaube ich, müssen wir Menschen aller Völker denen, die in dem Krieg gefallen sind, etwas geloben.“

Praktisch relevantes Gedenken heißt für Schweitzer zunächst, die Hinterbliebenen tatkräftig zu unterstützen. Gedächtnis heiße aber auch einzusehen, dass man zu leichtsinnig viele Menschenleben in Rechnung gesetzt habe.

„Dem Geist der Mitleidlosigkeit sind [sie] geopfert […]. Die Gesinnung, in der dieses Menschengeschlecht aufgewachsen ist, wollen wir von uns tun als die große Sünde, an der die Welt litt. Unsere Kinder sollen es von uns erfahren und als Vermächtnis in ihr Leben mit hinausnehmen, dass das Gebot ‚du sollst nicht töten‘ eine viel tiefere Bedeutung hat, als die Menschen, die uns erzogen, und wir selbst für wahr gelten ließen. […] Ehrfurcht vor dem Menschenleid und dem Menschenleben, vor dem Kleinsten und Unscheinbarsten sei das eherne Gesetz, das hinfort die Welt regiere. [… L]asst euch nicht irre machen, wenn viele um euch herum die Zeichen der Zeit nicht verstehen und in Äußerlichkeiten aufgehen, sondern wisset, dass wenn nur wir denken und tun, was getan werden muss, ein Segen für die Welt daraus entstehen wird. So wollen wir den Toten gedenken.“ 3

Albert Schweitzers Appell gilt damals wie heute. Vielleicht treffen die Zitate auf Ihr Interesse und Sie mögen die Texte einmal im Zusammenhang lesen?

Quellenangaben:

1 Selbstzeugnisse. München 1959, S. 177 ff.

2 Kultur und Ethik. München 1996, S. 15. 22 ff.

3 Straßburger Predigten. München 1993, S. 113 ff.