„Albert Schweitzer – Musiker-Prediger-Mensch“ beim Orgelfest Hannover

Von Wolf Kalipp

Im Rahmen der groß angelegten Orgelkonzertreihe „100 Jahre Albert-Schweitzer-Spital-Lambarene 1913-2013 – Hundert Jahre Menschlichkeit“ veranstaltete die Hannoveraner Marktkirchengemeinde St. Georgii et Jacobi mitsamt einem rührigen Organisationsteam ein dreitägiges, Maßstäbe setzendes Orgelfest. Der musikalische Hausherr und Organist Ulfert Smidt hatte an seine drei Orgeln (Goll-Orgel von 2009, Eule-Chororgel von 2007/08 und Italienisches Positiv von 1780) einen internationalen Kollegenkreis eingeladen, der sowohl auf den Spuren Schweitzers wandelte als auch neue Positionen innerhalb organistischer Performance-Techniken setzte. Es galt hier wie auch in den 2013 europaweit erklingenden 170 Orgelmusiken und Vorträgen, durch Eintrittsgelder und Spenden zur weiteren Finanzierung des äquatorialafrikanischen Tropenhospitals beizutragen, um das von Schweitzer begründete Liebeswerk weiterhin auf eine solide medizinische, administrative und bautechnische Basis zu stellen. Mit dem Deutschen Hilfsverein Albert-Schweitzer-Spital-Lambarene unter Vorsitz von Dr. Einhard Weber, spiritus rector der Konzertreihe, und unter Schirmherrschaft des bekannten Wittenberger Theologen Dr. Friedrich Schorlemmer konnte Michael Grüber, Chef der Agentur ORGANpromotion in Horb/Neckar, diese singuläre Hilfsaktion in Gang setzen.

Stadtsuperintendent Hans-Martin Heinemann eröffnete am Freitagabend das Festival und wies darauf hin, wie dicht sich das kulturethische Spektrum in Leben und Werk Schweitzers entfaltet hat und wie aktuell seine Botschaft einer „Ehrfurcht vor dem Leben“ auch heute noch auf uns zukommt.

Ulfert Smidt gestaltete in seinem Eröffnungskonzert einen eindrucksvollen Bilderbogen musikalischer Identifikation mit der Interpretationstechnik des großen Elsässers und wandelte in Bachs Passacaglia, dem leitmotivisch das Werk Schweitzers durchziehenden Choralvorspiel „Liebster Jesu, wir sind hier“, in Mendelssohn Bartholdys oft von Schweitzer gespielter 4. Orgelsonate und einer eigenen, überzeugend ausgeführten Orgelbearbeitung der großen César Franckschen Klavierkomposition „Prélude, Choral et Fugue“ – als Verbeugung vor dem Grand Docteur – kongenial an seiner üppig bestückten Goll-Orgel, die wie in den anderen Konzerten ihre stilübergreifende Registerpalette adäquat ins Spiel bringen konnte.

Der Hannoveraner Musikhochschuldozent und langjährige Schweitzer-Forscher Dr. Wolf Kalipp gestaltete tags darauf mit seinem Vortrag „Albert Schweitzer – Orgelvisionär im beginnenden 20. Jahrhundert“ im Bödeker-Saal der Marktkirche ein eindringliches Plädoyer der Besinnung auf Schweitzers Anliegen, auch in seinem musikalischen Wirken als konzertierender Organist, Orgelsachverständiger, Bach-Forscher und Musikästhetiker lehrend und prägend auf den von Bach und der Orgel angerührten Menschen einwirken zu wollen, um ihm den „Klang der Humanität“ nahe zu bringen. Das sich anschließende Roundtable mit der Hannoveraner Pastorin Katrin Woitack, dem dortigen Orgelprofessor Emmanuel Le Divellec und dem Referenten unter der Moderation des Hannoveraner Theologen Wolfgang Puschmann erhellte Hintergründe zur musikalisch-theologischen Ethik und zur Interpretationspraxis von Schweitzers Epoche.

Die nachmittägliche Orgelführung in Hannovers Stadtteil Misburg und zu dessen wohldisponierter kleiner Furtwängler & Hammer-Orgel von 1904 erlaubte einem ausgewählten Kreis an Hannoveraner Hochschulstudenten, sich unter Anleitung ihrer Dozenten Le Divellec und Smidt mit dem musikalischen Tiefengehalt von Bachs Choralvorspielen in romantischer Spieltechnik in einem informativ gestalteten Workshop auseinander zu setzen.

Zum großartigen und überwältigenden Erlebnis wurde das abendliche Orgelkonzert des Straßburger Organisten an St. Thomas, Daniel Maurer, international gefragter virtuoser Interpret, der mit einem Bündel an bekannten Bach-Werken in prägnantester musikalischer Diktion und subtiler Klarheit die Goll-Orgel aufleuchten ließ, auch Schweitzers Lehrer Charles-Marie Widor mit ausgewählten Sätzen aus dessen Orgel-Oeuvre brillant würdigte (Intermezzo aus der 6. und die berühmte Toccata aus der 5. Orgelsinfonie nebst einer aufhorchen lassenden Bearbeitung eines Bach-Cembalostückes) und mit einer grandios durchgeführten Improvisation über ein elsässisches Volkslied („Hans im Schnakenloch“), die nahezu alle Stilarten der französischen Orgelsinfonik vom frühen Messiaen bis in unsere Tage auf das Spannendste darbot, sein Programm beschloss und den begeistert applaudierenden Zuhörern mit improvisierten Barock-Konzertsätzen dankte.

Der Stuttgarter Hochschulprofessor Jürgen Essl nahm die Zuhörer nebst seinem ehemaligen Schüler Jeremy Joseph, aus Südafrika gebürtig und indischer Abstammung (über viele europäische Orgelstudienwege derzeit als Organist der Wiener Akademie tätig) mit auf eine musikalische Zeitreise in beider Nachtkonzert, betitelt „Nachtgespräche“. Diese geschahen höchst einfallsreich und in sprudelnder, blendend virtuoser Geste an allen drei Martkirchen-Orgeln im Wechsel von oben nach unten (Italienisches Positiv) und auch vierhändig-vierfüßig an der Hauptorgel in gebundenen und freien, teilweise der Minimal-Music, teilweise aleatorischen Improvisata huldigend, wobei sich auch ein alterationsharmonisch bezaubernd verfremdetes „Der Mond ist aufgegangen“ in einen romantisch-sinfonischen Konzertsatz einnistete.

Damit zwischen den samstäglichen Konzertereignissen das Publikum nicht nur geistige Genüsse zu sich nehmen, sondern auch der bodenständigen elsässischen Küche frönen konnte, wurden deftiger Zwiebelkuchen serviert und elsässische Weine kredenzt, beides Stimmungsmacher par excellence im schönen backsteingotischen Kirchenraum, an allen Tagen von frühsommerlichem Licht durchflutet und ein bei jeder Veranstaltung zahlreiches, interessiertes Publikum aufnehmend.

Schirmherr Friedrich Schorlemmer predigte am Sonntagmorgen im ausladenden, fast Leipziger Gottesdienstlänge der Bach-Zeit erreichenden Festgottesdienst humorvoll, anregend, und, wie bei ihm gewohnt, auch dezent-provozierend für eine große Marktkirchengemeinde über Psalm 19 „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“. Besinnung und Verpflichtung auf das Wunder von Gottes zu bewahrender Schöpfung band er in Reflexionen über Schweitzers Leitsatz einer „Ehrfurcht vor dem Leben“ ein. Musikalisch wurde in den Gottesdienst die gleichnamige Kantate BWV 76 über den Predigttext von Bachchor und Bachorchester Hannover samt einem gut inspirierten Solistenquartett unter Leitung von Keno Weber stimmungsvoll eingepasst. Ulfert Smidt schließlich rahmte die liturgische Feier durch Bachs großes e-Moll-Praeludium und Fuge BWV 548 ein und glänzte durch einfallsreiche Choralvorspielimprovisationen.