Von Eric Bohn
Gerade das Jahr 2019 mit seinem Doppeljubiläum „50 Jahre Albert-Schweitzer-Zentrum – 60 Jahre Verleihung der Ehrenbürgerschaft der Stadt Frankfurt am Main an Albert Schweitzer“ könnte dazu Anlass geben, das Leben und Denken Albert Schweitzers in der Kirchengemeinde zum Thema zu machen. Abgesehen davon: Legen nicht zuletzt die aktuellen Fragen nach einem menschenwürdigen Miteinander in unserer Gesellschaft und nach einem lebenswürdigen Umgang mit der Schöpfung Gottes nahe, sich auch und gerade in der Kirche mit Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben“ als einer Ethik zu befassen, die ihren Ursprung im christlichen Glauben hat? Brauchen nicht vor allem junge Menschen Persönlichkeiten, die ihnen Vorbilder, ja Zeuginnen und Zeugen des Glaubens sein können – Menschen wie Albert Schweitzer?
Ein Erfahrungsbericht aus der Gemeindepraxis
Zum Anlass des 100-jährigen Bestehen des von Albert Schweitzer gegründeten Spitals in Lambarene hat die Stiftung Deutsches Albert-Schweitzer-Zentrum in Frankfurt am Main, im Rahmen der Reihe „Albert Schweitzer Reflexionen“, den Entwurf eines literarischen Gottesdienstes herausgegeben: „Ehrfurcht vor dem Leben – Ein literarischer Gottesdienst. In memoriam Albert Schweitzer (1875-1965)“ lautet der Titel des von Walter Schiffer verfassten Konzepts (veröffentlicht in: Albert-Schweitzer-Reflexionen, Band 1, Frankfurt am Main, 2013, ISBN: 978-3-944826-00-4.).
„Angemessen scheint, zum Gedenken an das ‚vernünftige […] fromme […] Weltkind‘ Albert Schweitzer und den Professor der Theologie einen Gottesdienst, und da er auch ein bedeutender Schriftsteller war, einen literarischen Gottesdienst zu konzipieren.“ Nach den Ausführungen zu seiner Motivation erläutert Schiffer, was er unter einem „literarischen Gottesdienst“ versteht: „Wenn auch Albert Schweitzer sicherlich nicht als Poet gilt, so ist sein Werk, z. B. die ‚Selbstzeugnisse‘, ‚Aus meinem Leben und Denken‘, ‚Afrikanische Geschichten‘ von literarischem Rang. Ein Gottesdienst, der hauptsächlich aus Texten seiner Feder besteht, kann wohl ein literarischer Gottesdienst genannt werden.“
Nach der von ihm vorgelegten liturgischen Konzeption „sollen Musik, theologische, philosophische Texte, Meditation und eventuell Gespräche entlang den traditionellen Schritten eines Gottesdienstes eine Verbindung eingehen“, wobei es „selbstverständlich möglich [ist], Texte, Orgelpassagen und Lieder je nach Zeitpunkt innerhalb des Kirchenjahres oder örtlichen Gegebenheiten zu ändern.“
Begeisterung für einen literarischen Gottesdienst in memoriam Albert Schweitzer
Dieses Konzept begeisterte mich in meiner Kirchengemeinde, einen Albert Albert-Schweitzer-Gottesdienst zu feiern. Schwerpunkte sollten dabei die im Entwurf aufgeführte Auswahl von Texten Schweitzers wie auch die von Schweitzer geschätzte Orgelmusik Johann Sebastian Bachs (1685-1750) bilden. Im Interesse einer stilistischen Vielfalt wurden die für den Gottesdienst ausgewählten Orgelwerke Bachs noch durch Werke des französischen Romantikers César Franck (1822-1890) ergänzt, wie es Schweitzer selbst bei seinen Orgelkonzerten gerne tat. Mit Blick auf die „örtlichen Gegebenheiten“ sollte sich der Gottesdienst sowohl hinsichtlich seiner liturgischen Gestalt als auch hinsichtlich seines zeitlichen Rahmens von 1 bis maximal 1 ¼ Stunden bewegen.
Damit die Worte Albert Schweitzers und die Musik genügend Raum bekamen, musste ich an anderen Stellen kürzen, v. a. beim Gesang der Gemeinde: Das Orgelvorspiel zu Beginn des Gottesdienstes (Johann Sebastian Bach, Fantasia super „Komm, Heiliger Geist“, BWV 651) aufgreifend, habe ich jede der drei Strophen des Chorals „Komm, Heiliger Geist“ (EG 125) einzeln, als Eingangslied, als Lied vor der Predigt und als Schlusslied, singen lassen. Ansonsten wurden nur noch einige Strophen des Liedes „Wenn wir in höchsten Nöten sein“ (EG 366) als Lied nach der Predigt gesungen, welches von der Orgel zuvor in Form einer bachschen Choralbearbeitung („Wenn wir in höchsten Nöten sein“, BWV 668) intoniert wurde. An die Stelle der gewohnten liturgischen Antwortgesänge der Gemeinde auf das Sündenbekenntnis und die Gnadenverkündigung traten kurze Orgelwerke („Kyrie, Gott Vater in Ewigkeit“, BWV 672, „Christe, aller Welt Trost“, BWV 673 und „Kyrie, Gott Heiliger Geist“, BWV 674).
Die inhaltliche Zuordnung der von Walter Schiffer ausgewählten Schweitzer-Texte zum Ordinarium der Liturgie (vgl. Schiffer, S. 10-26) übernahm ich gerne, wenn auch mit einigen Kürzungen. Abweichend vom Entwurf habe ich darauf verzichtet, Sendung und Segen inhaltlich mit Schweitzer-Texten zu füllen (vgl. Schiffer, S. 27f). Dies erschien mir, nicht nur aus zeitlichen Gründen, sondern auch aufgrund der gedanklichen Fülle der bereits vorgetragenen Texte, als ein Zuviel, gerade am Ende des Gottesdienstes. So beschränkte ich mich an dieser Stelle auf die kurzen und vertrauten Worte des aaronitischen Segens (4. Mose 6, 24-26).
Die Predigt war zweigeteilt: Zunächst wurde, wie von Schiffer empfohlen, Schweitzers „Mein Wort an die Menschen“ (vgl. Schiffer, S. 21-24) vorgetragen. Dieser Text hätte freilich auch für sich stehen können. Ich entschied mich jedoch, diesem eine kurze, aktualisierende Auslegung folgen zu lassen.
Menschen aus der Gemeinde gewinnen
Im Interesse eines möglichst lebendigen und abwechslungsreichen Höreindrucks wollte ich Menschen aus der Gemeinde dafür gewinnen, Textlesungen mit mir gemeinsam zu übernehmen. Da in meiner Gemeinde Mitglieder des Kirchenvorstandes als Lektorinnen und Lektoren regelmäßig die Liturgie mitgestalten, konnte ich mich an einen bereits existierenden Kreis von Menschen wenden, die gut und gerne Texte vortragen. Schön war es für mich zu sehen, wie sich die Kirchenvorsteherin und der Kirchenvorsteher im Zuge der Vorbereitung ihrer jeweiligen Leseparts auch inhaltlich mit den Texten Schweitzers und dem Gesamtkonzept des Gottesdienstes auseinandersetzten und dafür begeisterten.
Auch liegt es nahe, Orgelwerke Bachs im Gottesdienst erklingen zu lassen. Der hauptamtliche Kirchenmusiker meiner Gemeinde erklärte sich ohne zu zögern dazu bereit. Freilich sind die musikalischen Möglichkeiten in den Kirchengemeinden sehr unterschiedlich: Nicht überall stehen Profis zur Verfügung. Das sollte aber keineswegs der musikalischen Schwerpunktsetzung eines literarischen Gottesdienstes in memoriam Albert Schweitzer im Wege stehen! Mit maximaler Offenheit und Flexibilität im Hinblick auf die Auswahl der Literatur sollten musikalisch begabte Menschen aus der Gemeinde in die Vorbereitung und Gestaltung des Gottesdienstes einbezogen werden. Im Sinne Schweitzers sollte die Musik Bachs nach Möglichkeit einen Schwerpunkt bilden. So können Posaunen- und Kirchenchöre schlichte Bach-Choräle spielen bzw. singen. Neben oder anstelle der Orgel können durchaus auch andere Solo-Instrumente zum Einsatz kommen, sowohl in der von Bach vorgesehenen Besetzung als auch in späteren Bearbeitungen bachscher Musik für andere Besetzungen und Instrumente.
Dies könnte auf Seiten der Musizierenden wie auch auf Seiten der Hörenden zu neuen Eindrücken der klangästhetischen Vielfalt führen, die gerade die Musik Bachs zulässt und Bach einmal mehr als einen „der größten Mystiker, die je unter Menschen aufgestanden sind“ (Albert Schweitzer) erleben lässt.
Ins Gespräch kommen – Vorbereitung und Einstimmung auf den literarischen Gottesdienst
Dazu wurden diesem zwei Lektüre- und Gesprächsabende und der Besuch des Deutschen Albert-Schweitzer-Zentrums im Rahmen eines Gemeindeausfluges vorangestellt. Alle Veranstaltungen, auch der Gottesdienst, fanden innerhalb des kompakten Zeitraums von zwei Wochen statt.
Im Rahmen der beiden Lektüre- und Gesprächsabende lasen und besprachen interessierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer ausgewählte Abschnitte aus Albert Schweitzers spannend, lebendig und verständlich geschriebener Autobiographie „Aus meinem Leben und Denken“ aus dem Jahr 1931: Am ersten Abend ging es um Schweitzers Ausführungen zu seiner Entscheidung Urwaldarzt zu werden, am zweiten Abend befassten wir uns mit seiner Entdeckung der Ethik von der „Ehrfurcht vor dem Leben“.
Fazit
Uns allen hat dieses Projekt große Freude bereitet und ich kann es nur empfehlen!
Eric Bohn ist Pfarrer der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und arbeitet in den Kirchengemeinden Offenheim, Erben-Büdesheim und Weinheim in Rheinhessen.