Albert Schweitzer – ein Patient mit Schreibkrampf

Von Einhard Weber und Daniel Neuhoff

Selbst einigen Kennern unbekannt, litt Albert Schweitzer fast zeit seines Lebens an einem Schreibkrampf im rechten Arm – einer Art Bewegungsstörung, die mit Verkrampfungen der Unterarm- und Handmuskulatur einhergeht und das Schreiben deutlich erschwert oder sogar unmöglich macht. In einem jüngst von Pavel Tacik u. a. (2011) in der medizinischen Fachzeitschrift „Parkinsonism and Related Disorders“ veröffentlichten Beitrag sind die Hintergründe dieses Leidens näher beschrieben worden. Die verstorbene Archivarin des Deutschen Albert-Schweitzer-Zentrums, Halina Tremska, hat mit ihrer Expertise und Erfahrung maßgeblich zum Gelingen des Artikels beigetragen. Die nachfolgenden Ausführungen sind auf der Grundlage der genannten englischen Originalarbeit entstanden. Schweitzer selber hat sich nur gelegentlich, vermutlich in Phasen akuter Pein aufgrund hohen Schreibpensums, zu dem Leiden geäußert. So schrieb er in hohem Alter an seinen Freund William Larimer Mellon, der ihn übrigens mit speziellen Füllern versorgte, die ihm das Schreiben erleichterten, einen Brief in französischer Sprache, den wir hier in deutscher Übersetzung wiedergeben: „In den letzten Monaten macht mir meine arme Hand, verursacht durch Schreibkrampf zunehmend Sorgen und das Schreiben wird für mich fast unmöglich. Ich muss sehr langsam schreiben. Die Feder bediene ich sehr unbeholfen und Schreiben ist mir zur wahren Pein geworden. Aber ich habe genug geschrieben während meines Lebens. Meine Hand hat mir immer gedient, wenn sie sollte. Nun muss ich ihr erlauben, sich auszuruhen. Welch ein Glück, dass sie mir so lange gedient hat, obschon sie schon schmerzte“.

Schweitzer erwähnte gelegentlich in seiner Korrespondenz, dass seine Mutter auch an Schreibkrampf gelitten haben soll. Das heutige medizinische Wissen kann diese Beobachtung unterstützen: Neben sporadischen Formen von Schreibkrampf gibt es auch erbliche (hereditäre). Vermutlich auf dem Boden der erblichen Belastung entstand sein Schreibkrampf, begünstigt durch sein immenses Schreibpensum.

Zum ersten Mal schrieb Schweitzer über sein Leiden im Alter von ca. 25 Jahren, wobei bereits als Kind das Schreiben für ihn eine Pein war, wenn sein Vater ihn gezwungen hatte, Dankeschön-Briefe für Weihnachtsgeschenke zu verfassen. So heißt es, dass er als Erwachsener seine Geschenke an Kinder mit einem Begleitschreiben versah, in welchem den Beschenkten verboten wurde, sich schriftlich bei ihm zu bedanken, damit diese „niemals ihre Suppe mit Tränen salzen müssten“, wie er es getan habe. Während seiner mittleren Lebensjahre setzte sich Schweitzer mehr oder weniger erfolgreich mit speziellen Schreibtechniken und Disziplin über den Schreibkrampf hinweg, der ihn ständig begleitete. Im Alter wurden die Beschwerden stärker und Albert Schweitzer sah sich teilweise genötigt, in seiner Korrespondenz die Schreibkrämpfe als Erklärung für verspätete Antworten bzw. schlechte Leserlichkeit vorzubringen. Seinen Schreibkrampf ließ er nie diagnostizieren, obwohl die Krankheit bereits im Jahre 1830 vom schottischen Chirurgen Charles Bell beschrieben worden ist. Schweitzer benutzte Tricks, um mit seinem Leiden zurechtzukommen: Er verwandte eine spezielle Feder oder ließ seine Briefe von Mitarbeiterinnen schreiben, die eine ähnliche Schrift aufwiesen. Damals gab es außer Psychotherapie keine Behandlung. Aber selbst letztere nahm er trotz Angeboten nicht an. Wie phänomenal das menschliche Nervensystem ist, zeigte sich bei Schweitzer auf ganz besondere Art. Das filigrane Orgelspiel war für Schweitzer ohne Probleme möglich, obwohl bei Menschen mit Schreibkrampf auch andere, insbesondere hochspezifische Tätigkeiten mit der rechten Hand nicht selten betroffen sind, und seine Musik schenkte ihm selber und seinen Zuhörern einmalige Momente der Glückseligkeit.