Abschied von verbindlichen Werten?

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Abschied von verbindlichen Werten?
Albert Schweitzers Beitrag zur Erziehung in einer pluralistisch-interkulturellen Gesellschaft

Von Gottfried Schüz

Bei einem Besuch in Stuttgart fragte Albert Schweitzer einen Jungen auf der Straße nach einem bestimmten Haus. Dieser gab die gewünschte Auskunft und fragte zurück: „Sie sind doch Albert Schweitzer?“ – „Ja, der bin ich“. „Ach darf ich Sie dann um ein Autogramm bitten?“ – „Ja, gerne“, entgegnete Schweitzer erfreut. Als der Junge sein Autogramm in Händen hatte, bedankte er sich mit den Worten: „Prima, ich danke Ihnen vielmals. Jetzt habe ich drei ‚Albert Schweitzer’ – dafür bekomme ich einen ‚Max Schmeling’!“ 1

Es gehört zum pädagogischen Schattenreich, dass Wertsetzungen wohlmeinender Erzieher bei ihren eigenwilligen wie kreativ veranlagten Schülern immer wieder unbeabsichtigte Transformationen erfahren. Aber immerhin zeigt diese Anekdote eines: Bis Mitte der sechziger Jahre war Schweitzers vielfältiges humanitäres Wirken in den Medien und damit im öffentlichen Bewusstsein weitgehend präsent. Dementsprechend hatte er auch im Kanon der Lehrpläne für die öffentlichen Schulen seinen festen Platz, wovon heute keine Rede mehr sein kann. Im Gegensatz zur unmittelbaren Nachkriegsgeneration kann heute kaum ein Schulkind mehr etwas mit dem Namen Schweitzers verbinden. Selbst Schülerinnen und Schüler von Schulen, die sich mit seinem Namen zieren, wissen oft kaum mehr zu sagen als ‚ach das war doch so ein alter Doktor im Urwald …’ – also ein Mensch weit weg von der eigenen Lebenswirklichkeit, weit weg von den eigenen Interessen, Problemen und Bedürfnissen. Aber mit nostalgischer Wehmut zurückzublicken in eine angeblich heile pädagogische Welt wäre gleichwohl illusorisch, wie die geschilderte Anekdote belegt.

Hinzu kommt, dass spätestens mit der 68-iger Generation „Vorbilder“, überkommene Autoritäten und mit ihnen tradierte Werte grundsätzlich fragwürdig, ja suspekt geworden sind. Diese Entwicklung hat durch die zunehmende multikulturelle Durchmischung der Gesellschaft zusätzlich Rückenwind erhalten. Der Pluralität existierender Lebensformen und Weltanschauungen, die sich in den modernen Industriegesellschaften nebeneinander und oft gegeneinander etabliert hat, entspricht eine ebensolche Vielfalt konkurrierender Werte.

Müssen wir uns in dieser Zeitsituation, in der überkommene Werte ihre tragende Kraft eingebüßt haben, in der Individualisierung und Liberalisierung das gesellschaftliche Leben beherrschen, von einer allgemein verbindlichen ethischen Orientierung verabschieden?2 Gehört in dieser Lage eine Leitfigur wie Albert Schweitzer, so respektabel sie auch sein mag, nicht endgültig in den Theaterfundus der Geschichte eingemottet, wenn sie sich nicht als einsamer Rufer in der Wüste lächerlich machen soll?

Für die einen ist diese Entwicklung eine große Befreiung; Emanzipation von den Fesseln überkommener Traditionen in Familie und Gesellschaft, von autoritären Strukturen und institutionellen Bindungen. Andere hingegen fürchten, dass die gesellschaftliche Ordnung und kulturelle Integrität endgültig aus den Fugen geraten. Sie sehen das Heil im Ruf nach neuem Respekt gegenüber Autoritäten, in der Rückkehr zu Disziplin, zu allgemein verbindlichen Pflichten und Tugenden.

Kann in diesem Zerreißfeld zwischen Freiheitsanspruch und Autoritätsbindung, zwischen Individualismus und Moralität bzw. Beliebigkeit und Pflichterfüllung Albert Schweitzer noch eine lebbare Orientierung geben?

Ich nähere mich dieser Frage zum einen von der emanzipatorischen Seite des Abschieds von Werterepräsentanten und Vorbildern her. Zum anderen vom restaurativen Standpunkt aus, dem Ruf nach Rückkehr zu Disziplin und Pflichterfüllung. Die von beiden Gegenpositionen aus geschlagenen Kreisbögen lassen die Gegensätze hinter sich und schließen sich in Albert Schweitzers ethischem Denken und Handeln, dessen zukunftsweisende pädagogische Bedeutsamkeit ich im abschließenden dritten Teil vor Augen führen möchte.

I.

Zunächst also zur Vorbildfrage. Die in der 68-er Generation aufbrechende Problematik, dass überkommene Werte, Autoritäten, Vorbilder pädagogisch fragwürdig geworden sind, erhält in dem 1973 erschienenen Roman „Das Vorbild“ von Siegfried Lenz ein ausdrucksvolles literarisches Zeugnis. Ich möchte auf diesen Roman zunächst näher eingehen, weil sich daraus für unsere Fragestellung wertvolle Anregungen gewinnen lassen.

Lenz beschreibt darin das Dilemma dreier Pädagogen, die sich der Aufgabe stellen, für ein Lesebuch-Kapitel mit dem Titel „Lebensbilder – Vorbilder“ geeignete Portraits auszuwählen. Was auch immer an Lebensgeschichten und Persönlichkeiten von den drei Kollegen unter die Lupe genommen wird, kann zwar in der einen oder anderen Hinsicht Anklang finden; aber letztlich endet die Auseinandersetzung stets im gleichen Desaster: Man kann sich auf kein Vorbild einigen. Stattdessen verbreiten die Protagonisten zunehmend ihren Unmut darüber, was an ihrem Unternehmen in sich problematisch ist:

„Die Anmaßung nämlich, die darin liegt, Vorbilder auszusuchen (…) und jungen Menschen zu servieren – hier habt ihr euern Leonidas, euren Doktor Schweitzer, eifert ihm nach (…). Vorbilder sind doch nur eine Art pädagogischer Lebertran, den jeder mit Widerwillen schluckt (…). Die erdrücken doch den jungen Menschen, machen ihn unsicher und reizbar, und fordern ihn auf ungeziemende Weise heraus. Vorbilder im herkömmlichen Sinn, das sind doch prunkvolle Nutzlosigkeiten, Fanfarenstöße einer verfehlten Erziehung, bei denen man sich die Ohren zuhält. Alles, was sich von den Thermophylen bis nach Lambarene überlebensgroß empfiehlt, ist doch nur ein strahlendes Ärgernis, das nichts mit dem Alltag zu tun hat. Peinliche Überbautypen …“.3

Lenz bringt hier drastisch zum Ausdruck, was damals wie heute dem Selbstverständnis und Lebensgefühl der jungen Generation entspricht. Zugleich liefert er reichlich Wasser auf die Mühlen einer kritischemanzipatorischen Pädagogik. Und so hält auch Lenz nicht hinterm Berg, wenn er seine Lesebuch-Experten den Zumutungen solcherart Vorbildern an mehreren Stellen seines Romans näher heimleuchten lässt:

Die Konfrontation der jungen Leute mit „erdrückenden Denkmälern“ sei bestenfalls geeignet, ihnen „einen Minderwertigkeitskomplex beizubringen“ (S. 90). Die Botschaften übermächtiger Autoritäten, die wie „Leuchttürme“ herausragen, liefen geradezu auf eine „Beleidigung“ (S. 148) hinaus, handele es sich doch um „Zwangsangebote für Unmündige, Dumme, notorisch Ratlose“ (ebd.).

Jedoch erschöpfen sich ihre kritischen Einlassungen nicht im Lamentieren über eine „schwarze Pädagogik“ des Vorbildes; sie entwerfen auch positive Perspektiven des eigentlich pädagogisch Gewollten und Gesollten:

Es gehe doch darum, „die eigenen kritischen Fähigkeiten zu schärfen“ (S. 149), den Blick frei zu machen für verbindliche, „selbst gemachte Erfahrungen“ (S. 148). „Man könne sich doch zum Beispiel auf die Voraussetzung einigen“ – so treibt der kritischste Vertreter 3 Lenz, Siegfried: Das Vorbild. Hamburg 1973, S. 38. Folgende Seitenangaben als Klammerzusatz beziehen sich auf dieses Buch. im Pädagogen-Trio das Dilemma auf die Spitze –, „dass jeder sein eigenes Vorbild ist oder es doch werden kann – wenn er nur eine Chance erhält, sich zu verwirklichen in seinen besten Möglichkeiten“ (S. 91). Aber genau dies werde durch Vorbilder von gestern verhindert, die aus einer anderen für eine andere Zeit gelebt haben und die man deshalb besser „auf den Speicher der Vergangenheit schickt“ (S. 41).

Wie hätte sich nun Schweitzer selbst zu dieser harschen Pädagogenschelte geäußert? Freilich hätte er zunächst zugestanden, dass er insbesondere von seinen Zeitgenossen als Vorbild gehandelt wurde. Schon allein die vielen Schulen, die sich in dieser Zeit Schweitzer als Namenspatron zugeeignet haben, stehen dafür.

Zweifellos ist Schweitzers humanitäres Denken und Handeln in vieler Hinsicht vorbildlich zu nennen, d.h. ein Orientierungs- und Leitbild für jeden, der sich mit ihm näher auseinandersetzt. Dies darf aber nicht zu dem Umkehrschluss führen, dass Schweitzer den aufopferungsvollen Weg nach Afrika nur angetreten sei, weil er der Menschheit als beispielgebendes Vorbild demonstrativ voranschreiten wollte. Im Gegenteil, ich möchte behaupten, er hätte den Lesebuchexperten in Lenzens Roman reichlich Lob gezollt: die Art und Weise, wie man sich in weiten Kreisen seiner als „Vorbild“ bemächtigte, hätte er heftig zurückgewiesen: Er verstand sich gerade nicht als der moralische Exot, der bewundert sein wollte. Humanitäre Heldenverehrung auf dem Sockel der Ehrbarkeit mit dem Prädikat „besonders wertvoll“ war ihm zuwider. wertvoll“ war ihm zuwider.

In einem Brief an Rudolf Grabs, einen seiner Biographen, bedankt sich Schweitzer für die Wertschätzung seiner Arbeit in Lambarene; dann fügt er an:

„Holla, nun kommt aber ein Tadel. In einer Arbeit von Ihnen lese ich beim Titel den Zusatz ‚Vorbild einer ganzen Welt’ … Das ist etwas, das Sie nicht einmal denken, geschweige denn einem Titel beifügen dürfen! Dafür bin ich sehr empfindlich. Also bei einer Neuausgabe diese Worte unter den Tisch fallen lassen. Gelt. Sie tun es.“4

Schweitzer schrieb dies sicher nicht aus falscher Bescheidenheit. Ihm war es keineswegs um moralisierende Wegweiserschaft oder vorbildgebende Selbstinszenierung zu tun. Er verstand sich nicht als Wegweiser im üblichen Sinne, der einen auf den Weg hinweist, den man gehen soll. Vielmehr – wenn schon „Wegweiser“, dann als solcher, der darauf verweist, wie jeder seinen eigenen Weg finden kann. In diesem Sinne hätte er den Vorschlag eines der Lesebuchkritiker, dass jeder sein eigenes Vorbild werden bzw. finden müsse, keineswegs als zynisch abgetan, sondern nachdrücklich begrüßt.

Die humanitären Ideale lassen sich eben nicht einfach 1:1 von dieser oder jener realen Gegebenheit ‚abkupfern’, und seien sie in noch so strahlender Persönlichkeit repräsentiert, wie es Schweitzer war. Dies gilt erst recht für die Überlieferung wertvoller Ideen und Werte von einer Generation an die nachfolgende. Sie bleiben „toter Besitz“, wenn sie nicht in Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstsein in neuer Lebendigkeit angeeignet und hervorgebracht werden.5

Der Werteverlust, oder, wie Schweitzer es ausdrückte: „die immer zunehmende Kraftlosigkeit der Vernunftideale“6, hat einen entscheidenden Grund: er liegt nicht etwa daran, dass gesellschaftliche Institutionen wie Familie, Kirche und Bildungssystem ihre integrierende Kraft verloren hätten, dass es an entsprechend überlieferten Ideen und Normen fehlte. Das sind alles nur Epiphänomene. Die Ursache liegt tiefer und wird in der ebenso schlichten wie fundamentalen Aussage Schweitzers getroffen: „Wir denken nicht mehr …“7. – „Mit der preisgegebenen Freiheit des Denkens haben wir, es konnte nicht anders sein, den Glauben an die Wahrheit verloren“.8

Anders gesagt: Das Problem unserer Kultur besteht nicht darin, dass wir im Begriff wären, uns angeblich von tradierten Werten zu verabschieden. Es ist eher umgekehrt: das Grundproblem ist, dass wir uns allzu leicht von dem, was uns die Wirklichkeit in all ihren Gestaltungen und Gestalten anbietet oder zumutet, kritiklos vereinnahmen lassen. Die Wurzel der gesellschaftlichkulturellen Übel ist vor allem in unserer Gedankenlosigkeit und Blindheit zu suchen, mit der wir etwa Lebensstile und Konsumgewohnheiten, Denk- und Handlungsmuster, wie sie uns in der realen Welt oder auch nur imaginierten Wirklichkeit der Medienwelten offeriert werden, unreflektiert übernehmen. „Wir arbeiten unterschiedslos mit reellen und imaginären Werten“9, so Schweitzer, die wir aus den Tatsachen herleiten und uns ihnen dadurch ausliefern. Dies wird besonders bei Kindern und Jugendlichen augenfällig, die nur allzu gerne ihre „Werte“ aus wohlfeilen Tatsachen beziehen – Idole und „Vorbilder“ jeglicher Couleur inbegriffen. Geradezu zwanghaft orientieren sie sich oft an Idolen der Unterhaltungsindustrie, zumeist aber an der jeweiligen ethnischen oder religiösen Bezugsgruppe, um mit dem, was man hat, wie man sich gibt und redet, stets „cool“ und bei seinesgleichen akzeptiert zu sein.

Was in der Erziehung aus Schweitzers Sicht vor allem anderen Not tut, ist, Kinder und Jugendliche aus diesen „Zwängen“ zur Anpassung an vorgegebene Normen und subkulturelle Standards zu befreien und zu innerer Selbständigkeit zu führen. Dies ist in einer Lebenswelt, in der vor allem junge Menschen durch eine unübersehbare Fülle an Unterhaltungs- und Zerstreuungsangeboten in Anspruch genommen sind, schwerer denn je. Schon Schweitzer hat vor hundert Jahren das übermäßig starke Bedürfnis des modernen Menschen nach „äußerlicher Zerstreuung“ beklagt. „Die Unterhaltung, die den geringsten geistigen Aufwand erfordert, ist ihm am angenehmsten“.10 Um sich aus den schädlichen Abhängigkeiten zu lösen und zu „geistiger Erneuerung“ und „wahrem Menschentum“11 zu gelangen, gibt es für Schweitzer nur einen Weg:

Nicht Blick auf die Welt, sondern „Besinnung auf sich selbst“. Eine geistige Erneuerung ist nur auf dem Wege „innerlicher Selbstbesinnung“12, und das heißt, auf dem Wege des Denkens zu erreichen. Wie sieht dieser Weg aus?13

Drei Wegmarken möchte ich hervorheben:

1. Die Besinnung auf sich selbst ist kein Rückzug in die weltabgeschiedene Innerlichkeit, sondern bedenkt das ureigenste Verhältnis zur Wirklichkeit, zu Mitmensch und Mitgeschöpf. Dieses Verhältnis spiegelt sich nach Schweitzer bekanntlich in der Grundtatsache, dass ich Leben bin, „das leben will, inmitten von Leben, das leben will’“.14

Schweitzer nun behauptet, dass der über diese Tatsache nachdenkende Mensch „nicht anders kann“ als das vielgestaltige Leben um sich herum in gleicher Weise anzuerkennen wie das eigene. Wir erleben aus dieser Tatsache heraus geradezu eine „Nötigung“, allem Leben die gleiche „Ehrfurcht“ entgegenzubringen, d.h. wo immer es geht, Leben zu erhalten und zu fördern bzw. dessen Schädigung oder Vernichtung möglichst zu vermeiden.15

Was aber könnte gerade auch junge Menschen dazu nötigen, den Weg des gedankenlosen Dahinlebens und des egoistischen Sich-selbst-ausleben-Wollens zu verlassen?

Der erste Schritt, diese Gedankenlosigkeit zu durchbrechen, ist das „Bemühen um Wahrhaftigkeit“ gegen sich selbst, d.h. die bewusste Bereitschaft, seinen eigenen Lebenswillen im Lebenswillen anderen Lebens, welcher Art es auch sei, wahrzunehmen und als gleichberechtigt anzuerkennen. Wirkliches Denken stellt sich in aller Wahrhaftigkeit der Frage nach dem Grundsinn unseres Daseins im Verhältnis zu uns selbst und zu anderem Leben, ja zum Leben im Ganzen. Ohne diese Bereitschaft, sich und allen Mitgeschöpfen vorbehaltlos zu begegnen, die Verbundenheit mit ihnen im Kleinen wie im Großen uneingeschränkt anzuerkennen, kann grundsätzlich keine ethische Gesinnung entstehen.

2. Diese Anerkenntnis ist freilich auf rein kognitiver Ebene kaum zu erreichen. Spätestens seit Wilhelm Buschs „Max und Moritz“ sollten wir uns über den Wirkungsgrad des bloßen Hörens von „der Weisheit Lehren“ im Handeln von Kindern und Jugendlichen keine Illusionen machen. Das Denken hingegen, das durch die „Besinnung auf uns selbst“ in Gang kommt und in die Gesinnung einer Ehrfurcht vor dem Leben einmündet, hintergreift und übersteigt alles, was man üblicherweise unter „Denken“ versteht. Wirkliches bzw. wahres Denken im Sinne Schweitzers erschöpft sich nicht in logischen Verstandesoperationen und beruhigt sich nicht damit, dass wir uns in unserem Dasein möglichst bequem häuslich einrichten. Es ist keine bloß intellektuelle Beschäftigung, sondern ein Erkennen, das seine eigenen Grenzen übersteigt und in „Erleben“ übergeht. In ihm erst öffnet sich das Denken in das „wahre Erleben des Lebens“.16 Es beruht auf der tiefen Einsicht, dass „das Herz mitzureden hat mit dem Verstand!“17 Mit Schweitzer noch deutlicher gesagt:

„Das Gefühl, das sich dem Denken entzieht, verfehlt seine Bestimmung. Das Denken, das meint, am Gefühl vorbeigehen zu können, kommt von dem Wege ab, der in die Tiefe führt. Wo das Gefühl in das Denken hinaufreicht und das Denken in das Gefühl hinabreicht, ist unser ganzes Wesen an dem Gestalten der Überzeugungen, die wir in uns tragen, beteiligt.“18

Prägnanter kann man die innere Zusammengehörigkeit von Gefühl und Denken nicht ausdrücken. Damit ist der unselige Gegensatz von Ratio und Emotio, von Rationalität und Irrationalität, der seit Jahrhunderten bis heute Schul- und Gelehrtenstuben weithin beherrscht, von Schweitzer im Hegelschen Sinne „aufgehoben“, d.h. auf einer höheren Ebene integral vereint.

Schweitzer ist es als erstem in der Geistesgeschichte gelungen, die Dichotomie von Vernunft und Affekt, Denken und Fühlen im ethischen Handeln zu überwinden und in ihrer wechselseitigen Verwiesenheit aufeinander zu erkennen. Wahres Denken ist für ihn immer auch fühlend und jedes Fühlen zugleich denkend. Rationales und Irrationales fließen ineinander und öffnen die Empfangsorgane sozusagen für alle Frequenzen, die das Universum dem Menschen zu bieten hat.

Am Rande sei an dieser Stelle angemerkt, dass es auch Erich Fromms Ziel war, die Trennung von Denken und Gefühl in der humanistischen Erziehung zu überwinden.19

3. Solches Denken, das in allen Dimensionen des Lebens Wurzeln schlägt, durchdringt und ‚bewegt’ noch in einer anderen Hinsicht den „ganzen Menschen“: indem es aus dem Leben entspringt und auf das Leben zugeht, prägt es nicht nur die „Gesinnung“, sondern setzt einen buchstäblich in Bewegung: „Weil wir unser Leben und anderes Leben als etwas Wertvolles ansehen, vermögen wir nicht dabei zu verbleiben, nur so für uns dahinzuleben, sondern wir empfinden die Nötigung, die besten Daseinsmöglichkeiten für uns und das andere Leben, das sich in dem Bereiche unserer Betätigung befindet, zu schaffen.“20

Die aus der Tiefe des erlebenden Denkens erfahrene Verbundenheit mit allem Leben lässt uns aus unserem selbstbezogenen Für-uns-sein heraustreten und gegenüber jedem Geschöpf, das in unseren Bereich tritt, Mitfreude und Mitleid empfinden; und nur dann erleben wir die immer stärker werdende „Nötigung zur Rücksichtnahme auf andere Wesen und zur helfenden Hingebung an sie.“21 „Denkend sein heißt, von dem Geheimnis, dass alles Leben einen Wert bedeutet, erfüllt sein. Aus dem wahren Denken kommt also Ethik“.22

Um das bisher Gesagte zusammenzufassen: Eigenbestimmtes ethisches Handeln folgt nicht einem wie auch immer gearteten Vorbild, indem es dieses im Verhältnis von Urbild und Abbild reproduziert. Es basiert stattdessen auf einer Besinnung, die „denkend, empfindend und ahnend“ dem Grundsinn unseres Daseins Richtung und Wert gibt.23 Erst diese lässt uns aus unserer bloß „naturhaften Zugehörigkeit zur Welt heraustreten“24 und erschließt uns den Horizont für die innere geistige Zusammengehörigkeit allen Lebens. Und erst über ein solches „Sich-zueigen-Machen“ einer Wertausrichtung, die unser ganzes Wesen erfasst, besteht eine Chance, dass wir unsere Selbstbezogenheit als unwahrhaftig erkennen und überwinden, indem wir uns für die Erhaltung unserer Mitgeschöpfe, welcher Art auch immer, engagieren.

Erleben, Denken und Handeln sind Schweitzer zufolge also keine disparaten Welten, sondern fließen ineinander und bringen sich gegenseitig hervor.

Die daraus sich ergebenden pädagogischen Konsequenzen liegen auf der Hand; ich muss sie aber zunächst noch zurückstellen, um mich von der angekündigten zweiten Seite unserer Fragestellung zu nähern.

II.

Der Ruf nach Werten wird, wie eingangs angedeutet, nur allzu leicht ideologisch vereinnahmt: Er dient vielfach dazu, Autoritäten und Machtansprüche in ihr vermeintliches Recht zu setzen. Diese Diskussion gipfelt in dem Buch „Lob der Disziplin“ von Bernhard Bueb, ein mit breiter Zustimmung aufgenommener Bestseller. Und damit komme ich zur zweiten Rezeptur, die angesichts der Diagnose „Werteverlust“ allzu gerne als Therapie verabreicht wird.

Schon sprichwörtlich ist der Werteverlust, der insbesondere der heutigen Jugend vorgeworfen wird. Wer dies, wie der ehemalige Leiter des Salem-Internats, an den öffentlichen Pranger stellt, kann sich breiter Zustimmung sicher sein. Egoismus und Anspruchsdenken, mangelnde Anstrengungsbereitschaft und Spaßhaltung, Ungehorsam und Konsumgier – allesamt Schlagwörter, derer sich Bueb bedient, werden von gebeutelten Eltern dankbar aufgegriffen, die manch grenzüberschreitende Unersättlichkeit ihrer Kinder bis hin zum Komasaufen mit Recht nicht mehr ertragen können.

Was liegt näher als angesichts solcher moralischen Dammbrüche den pädagogischen Notstand auszurufen und gegen eine verweichlichte „Kuschelpädagogik“ ins Feld zu ziehen? An die Stelle des Lustprinzips müsse wieder das Leistungsprinzip gesetzt werden, die Jugend müsse lernen, Erziehungsautoritäten wieder vorbehaltlos zu respektieren, Disziplin zu üben, Regeln und Normen zu achten – Regeln, deren Verstoß schon im Kleinen durch entsprechende Strafen konsequent geahndet werden müssten, damit sie auch eingehalten werden.25

Bernhard Buebs Leitparole lautet also: „’Wenn wir unsere Unschuld im Verhältnis zur Macht wiedergewonnen haben, werden wir auch unbefangen von Disziplin und Gehorsam sprechen können’“. Mögliche Vorbehalte schiebt er sogleich beiseite: „’Ein möglicher Missbrauch darf kein Einwand sein. Wir müssen uns dazu durchringen, legitime Macht als Autorität anzuerkennen, die Macht Gottes, die Macht des Staates und die Macht der Erziehungsberechtigten’“.26

Solche und ähnliche Forderungen finden nicht nur an Stammtischen Beifall. In einer offenen Gesellschaft, in der sich der Individualismus breit macht, religiös-kulturelle Vielfalt und Pluralismus die Orientierung erschweren, soziale Sicherungssysteme und Wertefundamente wegbrechen, gewinnt der Ruf nach Autorität und Gehorsam besondere Attraktivität. Das Disziplin-Konzept verspricht in der Erziehungspraxis vor allem eines: Entlastung. Dieses immer neue, kräftezehrende Aushandeln von Interessen und Freiräumen, das immer erneute Legitimieren-müssen von Verhaltens- und Leistungsanforderungen, die doch so selbstverständlich scheinen, ist Erwachsenen und Erziehern mehr als lästig. In einer Arbeitswelt, in der Anpassung, Funktionieren und Effizienz gefordert sind, sei doch das ewige Diskutieren und Rechtfertigenmüssen von Anforderungen ausgesprochen kontraproduktiv.

Keine Frage – Bernhard Buebs Rettungsanker gegen die Erosion der Werte erscheint evident. Müssen denn die Dämme nicht dort gestopft werden, wo sie brechen? Solcherart Krisenbewältigung aber ist so naiv wie kurzsichtig. Sind die Dämme gegen andrängende Fluten erst einmal dick und hoch genug, dann braucht man sich um die Ursache des Hochwassers keine Gedanken mehr zu machen.

Wie hätte sich Albert Schweitzer zu Buebs „Lob der Disziplin“ geäußert? Schweitzer, der wie kein Zweiter Disziplin und Pflichtbewusstsein unter Aufbietung aller seiner Kräfte bis ins 90. Lebensjahr hinein gelebt hat?

1. In einem Punkt dürften sich beide, Bueb und Schweitzer, vielleicht noch begegnen: In der Klage über den allgemeinen kulturellen Niedergang und Werteverlust. In der Beantwortung der von Schweitzer aufgeworfenen Frage: „Wie kommen wir aus der Inhumanität wieder heraus?“27 scheiden sich die Geister jedoch geradezu kontradiktorisch. Schweitzer lässt keinen Zweifel daran, dass das klassische Disziplinkonzept, das mit Bueb fröhliche Urständ’ feiert, ein Irrweg ist, der nur noch mehr in die Inhumanität hinein- als aus ihr herausführt.

„Von Jugend auf wird der moderne Mensch so mit dem Gedanken der Disziplin erfüllt, dass er sein Eigendasein verliert und nur noch im Geiste einer Kollektivität zu denken vermag.“28

Oder an anderer Stelle: „(D)ie auf allen Gebieten so stark ausgebildete Disziplin machen es einem überaus großen Teile der modernen Menschen unmöglich, in ihrem täglichen Berufe irgendwelche geistige Selbständigkeit zu üben“.29

„Disziplin“ ist für Schweitzer in erster Linie ein Synonym für die Unterwerfung des Einzelnen unter allgemein geltende Normen der Gesellschaft.30 Diese lassen sich im Wesentlichen zurückführen auf „das praktische und naheliegende Ideal des tüchtigen Arbeitsmenschen und disziplinierten Staatsbürgers“.31 Normierung des Guten, gesellschaftlicher Anpassungsdruck und reglementierte Verantwortlichkeiten produzieren „geistige Unselbständigkeit“ und „knechtischen Geist“.32 Schweitzer hat dabei die gesellschaftlich von außen aufgezwungene Disziplin im Visier. Dass „Disziplin“ für die praktische Lebensbewältigung unerlässlich ist, steht natürlich auch für ihn außer Frage – allerdings kann diese sich nur als Selbstdisziplin, die aus eigenem Willen entspringt, bewähren. Auch hier findet sich eine wesentliche Schnittstelle zwischen Schweitzers und Fromms Denken, auf die ich wenigstens kurz hinweisen möchte.33

2. Damit ist aber auch nicht gesagt, dass Schweitzer den sittlich-moralischen Anspruch der Gesellschaft als solchen verwirft. Auf gesetzlicher Basis muss sie sich notgedrungen an dem orientieren, was sich für das Wohlergehen einer Mehrheit als zweckmäßig erweist. Die überkommene Sitte und Moralität sucht das Handeln des Einzelnen zum Wohl der Allgemeinheit durch gebrauchsfertige Gebote und Verbote, durch wohldefinierte Tugenden und klar umrissene Pflichten zu regulieren. Sie „gebietet“, aber sie tut es innerhalb wohl abgezirkelter Grenzen und normierend, soweit es für die gesellschaftliche Selbsterhaltung dienlich scheint. Eine solchermaßen gelebte Moralität ist in ihrer eminent staatstragenden Bedeutung von Schweitzer durchaus anerkannt.34

Aber sie birgt eine große Gefahr in sich: dass nämlich der Einzelne mit einer solcherart begrenzten und normierten Sittlichkeit sein Genüge findet. Denn diese nötigt zu einer begrenzten Verantwortung und bleibt auf halbem Wege stehen. Indem sie „objektive Zwecke“ verfolgt, kommt sie nicht umhin, den Einzelnen als Mittel zum Zweck zu betrachten. Aber gerade dadurch „ist sie ihrem Wesen nach inhuman“.35

Während also das Law-and-order-Konzept Buebscher Couleur eine Restauration gesellschaftlicher Erziehungsmächte propagiert, die bestrebt sind, mit den Mitteln von Führung, Disziplin und Strafe den jungen Menschen Pflichten und Verantwortlichkeiten ‚beizu bringen’, kommt Schweitzer zu der gegenteiligen Feststellung: „Die Gesellschaft kann … nicht die sittliche Erzieherin der einzelnen sein.“36 Sie ist bestrebt, das ‚Tier im Menschen’ in Schach zu halten, statt die „Elementarkraft des Denkens“ in ihm zu wecken. „Erziehung und Selbsterziehung zum wahren Menschentum muss die geistige Freiheit zum Gegenstande haben.“37

Der Urquell ethischer Energie und das Heimatrecht wahrer Humanität ist einzig und allein in der Freiheit und Selbständigkeit des Einzelnen zu suchen, die – wie bereits ausgeführt – im eigenen Denken fundiert ist.

Entsprechendes hatte schon Immanuel Kant deutlich gefordert:

„Der Mensch kann entweder bloß dressiert, abgerichtet, mechanisch unterwiesen, oder würklich (sic!) aufgeklärt werden. Man dressiert Hunde, Pferde, und man kann auch Menschen dressieren … Mit dem Dressieren aber ist es noch nicht ausgerichtet, sondern es kommt vorzüglich darauf an, dass Kinder denken lernen.“38

Dieser humanistischen Leitidee der Aufklärung sah sich auch Schweitzer verpflichtet: Ethisches Denken und Handeln lässt sich nicht ‚von oben’ verordnen, sondern erwächst aus „innerlicher Selbstbesinnung“39 des Einzelnen, der – wie vorhin schon dargelegt – aus innerer Notwendigkeit handelt, die in der Erfahrung der Verbundenheit mit allem Leben verankert ist.

Das bedeutet schließlich: Allein aus der Quelle der ethischen Gesinnung des Einzelnen kann die Gesellschaft für ihre geistig-kulturelle Erneuerung Nahrung schöpfen.40 Also dient der Einzelne der Gesellschaft, ohne sich von ihr bevormunden zu lassen. Daher darf es niemals wieder dahin kommen, dass Staat und Gesellschaft die ethische Selbständigkeit und Humanität des Einzelnen um ihrer überindividuellen Zwecksetzungen willen okkupiert.41

3. Mit einer Ethik, die mit der Freiheit und Eigenbestimmtheit des Einzelnen ernst macht, ist eine ungeheure Zumutung verbunden: Sie induziert in uns eine Gesinnung, die „nicht kalt nach ein für allemal festgelegten Prinzipien“42 entscheidet, sondern nach Maßgabe der Ehrfucht gegenüber allen Mitgeschöpfen stets neu um eine wahre Menschlichkeit ringen muss.43 Dies ist alles andere als bequem. In einer Welt, in der widerstreitende Lebensrechte und -ansprüche auf Schritt und Tritt miteinander kollidieren, ist der Einzelne gezwungen, von Situation zu Situation immer neu zu entscheiden, wo für ihn die Grenze des Nicht-mehr-fördern-Könnens oder des Schädigen-müssens von Leben um der Selbsterhaltung oder der Erhaltung anderen Lebens willen liegt. „Nur subjektive Entscheide kann der Mensch in den ethischen Konflikten treffen“44, heißt es daher für Schweitzer, was soviel bedeutet, dass es keine objektiven, staatlich sanktionierten Entscheidungsmuster als Folie für ein Handeln im Sinne der Ehrfurchtsethik geben kann; die Entscheidungslast und Verantwortung des Einzelnen ist nicht delegierbar.

Damit aber ist der Einzelne mit einer Verantwortung konfrontiert, die an keiner Grenze halt macht. „Ethik ist“, so Schweitzer, die „ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt.“45 Nur jeder Einzelne kann im Spannungsfeld konfligierender Lebensansprüche von Fall zu Fall entscheiden, wie weit er mit seiner Hingabe an anderes Leben geht.

Wie oft werden Kinder und Jugendliche ‚zurückgepfiffen’, weil sie ihrer Gewissensstimme folgend gesellschaftliche Grenzen des Üblichen und Schicklichen überschreiten!

III.

Wie nun ist der pädagogische Ertrag von Schweitzers Denken einzuschätzen?

Schweitzer hat kein konsistentes pädagogisches Konzept vorgelegt. Zu Erziehung hat er sich kaum zusammenhängend geäußert, am ehesten vielleicht noch in seinen Schulreden. Umso mehr drängt sich auf, was Günzler einmal „die pädagogische Imprägnierung seiner Ethik“ genannt hat.46

Um den ‚pädagogischen Nährwert’ dieser Ethik angemessen dieser Ethik angemessen verorten zu können, mag ein kurzer Blick in die heutige Erziehungswirklichkeit, insbesondere im öffentlichen Bildungswesen, helfen:

Der gesellschaftliche und bildungspolitische Erwartungsdruck auf die heutige Schule wächst; – was sollen die Lehrer nicht alles leisten ..: Ein Sammelsurium aus Individualisten, Lernbeeinträchtigten und Hyperaktiven zu einer Klassengemeinschaft schmieden, dabei aber auch die Braven und Leistungswilligen nicht vernachlässigen, desinteressierte Eltern mobilisieren, Migrantenkinder aus ’zig Nationen integrieren und dabei latente „Kulturkämpfe“ ausfechten oder familiäre Erziehungsdefizite ausgleichen. Daneben sollen Vergleichsarbeiten geschrieben, Qualitätsmanagement betrieben und Schulprogramme evaluiert werden. Dazu kommen Bildungsstandards und neue Rahmenpläne, die normieren, welche Kompetenzen die Schülerschaft zu erwerben hat.

Gerade weil Schweitzer keine explizite Pädagogik entwickelt hat, ist er umso geeigneter, die Erziehungs- und Bildungspraxis aus dem Labyrinth pädagogischer Verstiegenheiten auf seine humanen Fundamente und elementaren Voraussetzungen zurückzuholen. Angesichts der Aufgaben und Erwartungen, die von allen Seiten auf und über die Schulen einstürzen, vermag gerade Schweitzer dazu beitragen, dass in die Schulen wieder Einzug hält, was ihr ursprünglich den Namen gegeben hat: scolae zu sein – ein Ort der Musse, der Sammlung und Beschaulichkeit.

Und hier schließt sich der Kreis meiner Ausführungen und rundet sich zu einem pädagogischen Credo, wie ich es nun abschließend im Sinne Schweitzers in fünf Thesen resümieren möchte:

1. Ursprungsort und Ziel jeglicher Erziehung und Bildung ist die Rückführung des Menschen aus der Zerstreuung und Gedankenlosigkeit zur „Sammlung“ und „Besinnung“. Nur durch sie kann der junge Mensch zurückgerufen werden aus seiner Verlorenheit an die Welt, um zu sich, d.h. zu Selbstsein und verantwortlicher Eigenbestimmtheit zu kommen.

Wie viel Langeweile, Schulunlust und -frust, wie viele Verhaltensauffälligkeiten sind darauf zurückzuführen, dass im alltäglichen Unterricht Lehrerinnen und Lehrer ihren Schülerinnen und Schülern auf dem Silbertablett fertige Gedanken servieren, statt ihnen Zeit und Gelegenheit zu geben, wirklich eigenständig zu denken. Aber das eigenständige Denken kommt selten von allein, es muss vielmehr immer neu herausgefordert werden. Erst die Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit, mit dem Staunenswerten und Schönen, aber auch mit dem Widersprüchlichen und Problematischen gibt den Anstoß dazu. Zudem muss dem Schüler Zeit und Gelegenheit gegeben werden, eigene Ideen, Einfälle, Gedanken, Erlebnisse, Gefühle zu entwickeln, die sein Verhältnis zu anderen und sich selbst spiegeln. Dabei geht es nicht darum, Werte zu ‚lernen’, sondern dieses Selbstverhältnis zu anderem Leben bewerten zu lernen. Nur so kann er eigene ethische Urteilsfähigkeit und selbst begründete Handlungsmöglichkeiten entfalten.

2. Eine so verstandene Erziehung zu selbständigem Denken ist dabei weder kognizistisch noch betreibt sie den Rückzug in eigenbrötlerische Selbstbespiegelung. Sie ergreift vielmehr umgekehrt den ganzen Menschen. Sie ist bestrebt, eigenes Denken und Handeln im Mitfühlen und Miterleben anderen Lebens zu verankern und dadurch in alle Dimensionen der Lebenswirklichkeit hinein zu öffnen.

Dieser Ansatz gewinnt angesichts multimedial hochgerüsteter Kinderzimmer eine enorme Aktualität. Kinder und Jugendliche laufen Gefahr, sich immer mehr der lebendigen Mitwelt zu entfremden und sich in virtuelle Medienwelten zu verlieren. Soziale Isolation und narzisstische Konsumfixierung, gepaart mit wachsender Gewaltbereitschaft, sind keine pathologischen Einzelerscheinungen mehr.

Erziehung zur Humanität im Sinne Schweitzers, die eine Verantwortung für alles Leben zum Ziel hat, muss so früh und so oft wie möglich Primärbegegnungen mit anderem Leben in seiner Vielfalt ins Zentrum stellen. Denn nur über die unmittelbare Betroffenheit durch andere Lebensbedürfnisse und Daseinsrechte, mit denen sich junge Menschen mitfühlend, mitleidend, miterlebend auseinandersetzen müssen, kann sich ihre Empathiefähigkeit und ein Gefühl der Verbundenheit mit dem Schicksal anderen Lebens entwickeln. Eine multikulturell und pluralistisch geprägte moderne Lebenswelt bietet hierfür ein früher kaum gekanntes Begegnungsfeld.

3. Daher darf die erzieherische Bemühung nicht auf Disziplinieren und fraglose Anpassung an Autoritäten oder vorgegebene ‚Werte’ gerichtet sein. Sie muss sich in erster Linie verstehen als Einübung „geistiger Freiheit“ und „innerer Selbständigkeit“.47

Diese huldigt weder einem sozial blinden Libertinismus und Individualismus noch entlässt sie den jungen Menschen in die Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit. Im Gegenteil: sie weckt, wo immer es geht, ihre kritische Vernunft in Auseinandersetzung mit ihrer Lebenswelt und mit sich selbst. Damit ist die Zumutung verbunden, Konflikte und widerstreitende Lebensinteressen nicht abzutun oder autoritativ zu glätten. Junge Menschen sollen frühestmöglich erfahren, dass Konflikte und Krisen konstitutiver Bestandteil des Lebens sind, und sie sollten zunehmend Freiräume erhalten, am Entscheidenmüssen von Fall zu Fall zu partizipieren und für ihr Entscheiden und Tun verantwortlich einzustehen.48

4. Solcher Pädagogik geht es ums Ganze: sie bildet den Grund und Ausblick zu einer „grenzenlosen“ Verantwortung, die sich der Leitidee der Ehrfurcht vor dem Leben verpflichtet weiß. Die Schule muss mit der gleichen Entschiedenheit des kritischen Fragens der Jugend vor Augen führen, „dass sie eine Aufgabe zu erfüllen hat in der Welt“49 – aber sie kann nicht vorschreiben, welche Aufgabe der Einzelne sich jeweils stellt, um die Probleme der Gegenwart auf dem Boden einer „tieferen Menschlichkeit in der Kulturgesinnung“50 zu lösen.

Es muss in der Erziehung primär darum gehen, Entscheidungsräume für eine selbstbestimmte Aufgabenwahl zu eröffnen, d.h. neue Betätigungsfelder eigener Verantwortung Grenzen überschreitend neu entdecken zu lassen. Erziehung im Geist der Ehrfurchtsethik weckt den kritischen Sinn dafür, Missstände, lebensfeindliche und lebenshemmende Verhältnisse nicht als unveränderlich hinzunehmen, sondern als Aufgabe wahrzunehmen, sie ins Lebensdienliche umzugestalten, wo immer es möglich ist. Sie ist bestrebt, die Humanität der Jugend tiefer zu verwurzeln und jeden Einzelnen nach Maß gabe seiner selbstbestimmten Möglichkeiten zu ermutigen, „sein Lambarene“ zu finden.

5. Dies erfordert schließlich einen grundlegenden Gesinnungs- und Beziehungswandel im pädagogischen Verhältnis. Eine Schule, die dem jungen Menschen mit autoritärem Führungsanspruch, verbunden mit Kontroll- und Sanktionssystemen begegnet, wird stets vom Gift des Misstrauens infiziert bleiben, und nie zu wahrer Humanität gelangen können. Im fehlenden Vertrauen erblickt Schweitzer eine der Hauptursachen der Inhumanität, und zwar nicht nur im Raum der Schule, sondern auf allen gesellschaftlichen Ebenen bis hin zur Völkerverständigung, die ohne ein gegenseitiges Vertrauen keine Basis für den Weltfrieden finden kann.51 Wahre Menschlichkeit kann daher nur dann in die Schulen als Keimzellen für eine bessere Welt Einzug halten, wenn sie auf allen Ebenen „den Menschen dem Menschen wieder vertrauenswürdig macht“.52

Vertrauen in die schöpferischen, lebensbejahenden Kräfte junger Menschen, Stärkung ihres Jugend-Idealismus, den die Erwachsenenwelt nur allzu schnell untergräbt, war Schweitzer stets ein zentrales Anliegen.53

Dieses Vertrauen wird auch dort immer neu in junge Menschen gesetzt werden müssen, wo es enttäuscht wird. Wir müssen das, was wir in der Erziehung erreichen wollen, nämlich eigenverantwortliches Entscheiden- und Handelnkönnen, stets aufs Neue in Kindern und Jugendlichen im Sinne positiver Erwartung voraussetzen. Ohne solchen Vertrauensvorschuss verspielt die Schule für die jungen Menschen jede lebensbejahende Zukunftsperspektive.

Copyright © 2009 by Dr. Gottfried Schüz

  1. Vgl. Kegler, Hartmut: Heitere Geschichten von und über Albert Schweitzer, hrsg. v. Albert-Schweitzer-Freundeskreis Aschersleben, o.J., S. 7f.
  2. Vgl. hierzu Schüz, Gottfried: Personale Entfaltung in der Krise. In: Dimensionen ganzheitlicher Verantwortung, Krisen – Aufgaben – Erziehung, hrsg. v. Heinz Knierim u. Gottfried Schüz, Grundlagen der Schulpädagogik Bd. 7, Hohengehren 1993, S. 51-68.
  3. Lenz, Siegfried: Das Vorbild. Hamburg 1973, S. 38. Folgende Seitenangaben als Klammerzusatz beziehen sich auf dieses Buch.
  4. Zager, Werner (Hrsg.): Albert Schweitzer. Theologischer u. philosophischer Briefwechsel 1900–1965. Werke aus dem Nachlaß, hrsg. v. Richard Brüllmann, Erich Gräßer u.a., München 2006, S. 240f.
  5. Schweitzer, Albert: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III. Werke aus dem Nachlaß, hrsg. v. Claus Günzler u. Johann Zürcher, dritter und vierter Teil, München 2000, S. 225f.
  6. Schweitzer, Albert: Wir Epigonen. Kultur und Kulturstaat. Werke aus dem Nachlaß, hrsg. v. Ulrich Körtner u. Johann Zürcher, München 2005, S. 28.
  7. Ebd., S. 56.
  8. Ebd., S. 57.
  9. Ebd., S. 119.
  10. Ebd., S. 44.
  11. Vgl. Schweitzer, Albert: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III. Werke aus dem Nachlaß, hrsg. v. Claus Günzler u. Johann Zürcher, erster und zweiter Teil, München 1999, S. 52, 218 u.a.
  12. Schweitzer, Albert: Wir Epigonen, S. 115.
  13. Vgl. Schüz, Gottfried: „Wohnen“ inmitten von Leben. In: Schweitzers Ethik der Dankbarkeit. Jahrbuch 2006/ Rundbrief Nr. 98, hrsg. v. Deutschen Albert-Schweitzer- Zentrum Frankfurt/M., S. 27ff.
  14. Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie. Bd. I: Verfall und Wiederaufbau der Kultur, Bd. II: Kultur und Ethik. Neuausgabe Becksche Reihe München 2007, S. 308; vgl. Bähr, Hans Walter (Hrsg.): Albert Schweitzer. Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten. München, 7. Aufl. 1966, S. 21.
  15. Ebd., S. 22.
  16. Schweitzer: Wir Epigonen, S. 184.
  17. Schweitzer, Albert: Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze. Werke aus dem Nachlaß, hrsg. v. Claus Günzler u.a., S. 214.
  18. Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie III, erster u. zweiter Teil, S. 28.
  19. Vgl. Fromm, Erich: Die Kunst des Liebens. Frankfurt/M u.a. 1980, S. 90ff.
  20. Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie III, dritter u. vierter Teil, S. 127 (Hvm).
  21. Schweitzer, Albert: Menschlichkeit und Friede. Kleine philosophisch-ethische Texte, hrsg. v. Gerhard Fischer. Berlin 1991, S. 86.
  22. Schweitzer, Albert: Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze, S. 138.
  23. Schweitzer, Albert: Wir Epigonen, S. 125.
  24. Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie III, dritter u. vierter Teil, S. 234.
  25. Vgl.: Thiersch, Hans: Rigide Verkürzungen – zur Attraktivität von Bernard Buebs „Lob der Disziplin“. In: Vom Missbrauch der Disziplin. Antworten der Wissenschaft auf Bernard Bueb, hrsg. v. Micha Brumlik, Weinheim/ Basel 2007, S. 16, 21.
  26. Zit. n. Andresen, Sabine: Vom Missbrauch der Erziehung. In: Vom Missbrauch der Disziplin, S. 89.
  27. Schweitzer: Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze, S. 215.
  28. Schweitzer: Kulturphilosophie, S. 29.
  29. Schweitzer: Wir Epigonen, S. 187.
  30. Vgl. ebd., S. 39.
  31. Ebd., S. 175.
  32. Ebd., S. 46; vgl. Schweitzer: Kulturphilosophie III, erster u. zweiter Teil, S. 45.
  33. Vgl. Fromm: Die Kunst des Liebens, S. 120ff; siehe auch seine Kritik an der „Standardisierung des Menschen“ und der „Herdenkonformität“ (ebd., S. 26). In diesem Sinne hebt Fromm explizit die „humanistische Ethik“ von einer „autoritären Ethik“ ab; vgl. Fromm, Erich: Den Menschen verstehen. Psychoanalyse und Ethik. München 7. Aufl. 2005, S. 17ff.
  34. Vgl. Schweitzer, Albert: Wir Epigonen, S. 211; ders.: Kulturphilosophie III, erster u. zweiter Teil, S. 251; ders.: Kulturphilosophie III, dritter u. vierter Teil, S. 271 u.a.
  35. Schweitzer, Albert: Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze, S. 39; vgl. ders.: Wir Epigonen, S. 211; ders.: Kulturphilosophie, S. 291.
  36. Schweitzer, Albert: Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze, S. 39.
  37. Schweitzer, Albert: Wir Epigonen, S. 179, vgl. 190f.
  38. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: Über Pädagogik. In: Ders.: Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10, S. 707 (A 24, 25).
  39. Schweitzer, Albert: Wir Epigonen, S. 115.
  40. Auch hier findet sich eine auffällige Übereinstimmung bei Fromm: „Nur durch einen tiefgreifenden Wandel des menschlichen Herzens (kann) eine neue Gesellschaft entstehen“ (Fromm, Erich: Haben und Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. München 5. Aufl. 1980, S. 129.
  41. Vgl. Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie, S. 326; ders.: Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze, S. 158.
  42. Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie, S. 325.
  43. Vgl. ebd., S. 317; Schweitzer, Albert: Wir Epigonen, S. 160.
  44. Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie, S. 316.
  45. Ebd., S. 309.
  46. Claus Günzler in: Schweitzer: Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze, S. 212. Vgl. ders.: „Nachdenklich machen ist die tiefste Art zu begeistern“. Zur Pädagogik in Schweitzers Ethik. In: Albert Schweitzer – ein Jahrhundertmensch mit Zukunft. Jahrbuch 2008/ Rundbrief Nr. 100, hrsg. v. Deutschen Albert- Schweitzer-Zentrum Frankfurt/M., S. 37-44.
  47. Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie, S. 30; vgl. ders.: Wir Epigonen, S. 40, 42, 178f, 185ff.
  48. Zur näheren philosophisch-anthropologischen Erschließung dieses Zusammenhangs vgl. hierzu vor allem Wisser, Richard: Kein Mensch ist einerlei. Spektrum und Aspekte „kritisch-krisischer Anthropologie“. Würzburg 1979.
  49. Ebd., S. 216.
  50. Ebd., S. 213.
  51. Schweitzer: Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze, S. 222. Zur anthropologischen Bedeutsamkeit des Vertrauens vgl. Schüz, Gottfried: Lebensganzheit und Wesensoffenheit des Menschen. Otto Friedrich Bollnows hermeneutische Anthropologie. Würzburg 2001, S. 164-191.
  52. Ebd., S. 214.
  53. Vgl. Schweitzer, Albert: Aus meiner Kindheit und Jugendzeit. München 1985, S. 57f.